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Loslassen: Das klingt so einfach. Doch eine Erkrankung wie Diabetes kann die Eltern-Kind-Beziehung belasten. Etwa dann, wenn Eltern aus Angst vor schlechten Werten und Folgekrankheiten den Diabetes ihres heranwachsenden Kindes am liebsten permanent kontrollieren würden. Apps, bei denen Eltern die Blutzuckerwerte ihres Kindes auf ihrem Handy verfolgen können, machen das nicht leichter. Der Streit ist programmiert. Was tun, um konstruktiv damit umzugehen? Ein Experte gibt Tipps.

„Loslassen heißt nicht alleinlassen“

Herr Prof. Kiess, dürfen Eltern die Blutzuckerwerte per App überwachen?

Ich würde mir das als Jugendlicher verbitten. Jetzt kommt das Aber: Nach Rücksprache und mit Zustimmung kann es hilfreich sein, etwa wenn sich das Kind damit sicherer fühlt. Wenn Eltern das Bedürfnis haben, den Diabetes zu verfolgen, muss man sich fragen, woher kommt das?

Vielleicht Angst ums Kind? Oder fehlendes Vertrauen?

Angst ist ein schlechter Berater. Und Vertrauen ein wichtiger Punkt. Ich hatte einen Fall, da behauptete ein Mädchen, sie würde Insulin spritzen. Hat sie aber nicht. Sie musste sogar in die Klinik. Ob es hilft, ein Kind an die kurze Leine zu nehmen, bezweifele ich aber. Warum?

Jugendliche sind klüger als wir. Selbst wenn wir sie per Blutzucker-App verfolgen, finden sie Wege wie den Katheter abmachen und Insulin heraustropfen lassen. Oder sie spritzen mit dem Pen irgendwo anders hin. Deshalb rate ich: Bauen Sie Vertrauen zu Ihren Kindern auf.

Wie lässt sich eine Vertrauensbasis schaffen?

Wenn Sie Ihr Kind bitten, die Pumpe zu zeigen und es meint: „Zeig ich dir nicht“, merken Sie, Sie haben ein Thema. Geben Sie Ihrem Kind nicht das Gefühl, dass Sie es kontrollieren wollen, zeigen Sie lieber, dass Sie sich interessieren.

Wann ist Kontrolle wichtig?

Eltern haben die Pflicht zu sagen: „Es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen.“ Eine rote Linie ist, wenn das Kind etwa kein Insulin mehr spritzt. Eltern haben nicht nur das Sorgerecht, sondern auch eine Fürsorgepflicht. Dabei geht es nicht um Strafe, das müssen Jugendliche verstehen.

Wie sieht eine gute Diabetes-Begleitung dann aus?

Kinder sollten spüren, dass ihre Eltern für sie da sind und dass sie mit Sorgen um den Diabetes immer kommen können. Zudem hilft Verständnis. Vielleicht ist dem Kind gerade etwas anderes wichtig. Es ist verliebt, hat Stress in der Schule … Bleiben Sie im Gespräch.

Wenn das Kind abblockt?

Dann ist es umso wichtiger zu zeigen: „Ich nehme dich ernst. Ich verstehe dich.“ Dem 14-Jährigen ist es vermutlich egal, ob er mit einem zu hohen Langzeitzuckerwert in 20 Jahren ein Nierenleiden bekommt. Sprechen Sie wertschätzend miteinander. Sie können Folgen thematisieren, etwa dass es Probleme geben kann, wenn es um den Führerschein geht. Fragen Sie, wo genau das Problem mit dem Diabetes liegt.

Wann können Kinder Eigenverantwortung übernehmen?

Das ist sehr individuell. Man muss den Entwicklungsstand des Kindes im Blick haben. Ein Sechsjähriger kann sich nicht allein um die Therapie kümmern. Etwas zurücklehnen können sich Eltern etwa ab dem elften Lebensjahr.

Loslassen - geht das bei Diabetes überhaupt?

Die Frage ist doch: Ist es ratsam loszulassen? Alleingelassen sein wollen wir alle nicht. Später sind es vielleicht Partner oder Partnerin, die beim Diabetes unterstützen, ohne zu kontrollieren.