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Dienstags ist Wolfgang Haase Dirigent. Dann sausen seine Hände durch die Luft, zeigen, winken, tippen auf Oberarme, drücken Hände und gestikulieren Sprachbarrieren weg. Haase dirigiert keine Musik, sondern Menschen. Sie stehen in zwei Schlangen vor ihm: links alle, die zum ersten Mal da sind. Rechts alle, die schon angemeldet sind. Ihr Ziel ist das gleiche: ein ehemaliger Discounter in Berlin-Köpenick, wo sie ihre mitgebrachten Tüten, Rucksäcke und Trolleys füllen wollen. Die Berliner Tafel verteilt dort einmal pro Woche Lebensmittel an ­armutsbetroffene Menschen. Früher haben sie das in der Kirche getan, doch während der Pandemie mussten sie wegen der ­Abstandsregeln umziehen. Nun hat die Ausgabestelle ein neues Zuhause gefunden: im Fan-Klubhaus des Fußballvereins Union Berlin. „Eiserner V.I.R.U.S. e.V.“ nennen sich die Sportbegeisterten. Ausgerechnet.

Stichwort Grundbedürfnisse

Doch für Ironie ist wenig Platz, wenn es ums Wesentliche geht. Den Menschen hier fehlt es am Nötigsten – und die Schlangen werden immer länger. „Wir spüren die Folgen von Pandemie, Krieg und Inflation extrem“, sagt Haase und passt auf, dass jeder in der richtigen Schlange landet, sich ­niemand vordrängelt, Familien zusammenbleiben können und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen nicht unnötig lange warten müssen. Einlasser heißt dieser Job.

Haase, 72 Jahre alt, ehemaliger Bauingenieur, arbeitet seit fast zehn Jahren ehrenamtlich für die Tafel. Montags sammelt er übrig gebliebene Lebensmittel von Händlern und Supermärkten ein, dienstags ­sortiert er Menschenschlangen, mittwochs hilft er beim Reinigen der Räumlichkeiten. „Drei Tage, die keiner sieht. Aber ein normales Rentnerleben würde mich langweilen“, sagt er und winkt eine ältere Dame mit Gehstock heran. „Du weißt doch, dass du nicht warten musst“, sagt er, schiebt sie sanft nach vorne und schaut ihr hinterher, als sie in der Halle verschwindet. Später wird die 83-Jährige, erschöpft an den Zaun gelehnt, von ihrer Krebserkrankung und den Geldsorgen erzählen.

Haase kennt viele der Menschen hier – und ihre Geschichten.

Wie die von Rosa, die sich heute auf der linken Seite eingereiht hat. Sie kennt das Prozedere, war vor vier Jahren schon mal Kundin bei der Tafel. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich wiederkommen muss“, sagt sie. Aber jetzt, mit den hohen Heizkosten und den steigenden Preisen im Supermarkt, da reiche ihre Rente trotz der Nebenjobs nicht mehr aus. „Ich kann ja nicht nur Tütensuppe mit Hirse ­essen.“ Die 61-Jährige umklammert den Griff ihres Einkaufstrolleys und zupft ihren Mantel zurecht. „Ich schäme mich nicht“, sagt sie. „Wofür auch? Ich habe zwei Kinder alleine großgezogen und trotz einer schweren Augenerkrankung und psychischer Probleme so viel gearbeitet wie möglich.“ Die Tafel sieht sie als Unterstützungsangebot für schwierige Zeiten.

Viktoriia, die vor ihr in der Schlange steht, nickt zustimmend. Sie kommt aus der ­Ukraine und ist mit ihrem fünfjährigen Sohn nach Berlin gekommen. Ihr Mann durfte die Heimat nicht verlassen. In Kiew hat die 38-Jährige als Englischlehrerin ­gearbeitet, auch ihr Deutsch ist fließend. „Ich würde gerne wieder unterrichten, aber es fehlen noch einige Dokumente, die im Kriegschaos schwer zu beschaffen sind“, sagt sie. Sie wirkt gefasst, aber müde, ­während ihr Blick über die Schlange gleitet: „Es ist sehr schwer. Unser Leben in Kiew war ganz anders.“

Dieses Jahr wird die Tafel 30 Jahre alt.

Das Konzept hat sich seit der Gründung kaum verändert, es richtet sich ­gegen Lebensmittelverschwendung und Armut ­gleichermaßen. Zuerst werden Lebensmittel gesammelt, die sonst im Müll landen würden – wegen ein paar brauner Blätter oder anderer Schönheitsfehler, weil das ­Ablaufdatum näher rückt oder Platz im ­Lager gebraucht wird. Rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jährlich im Müll, etwa die Hälfte davon ist noch genießbar. „Um diesen Teil geht es den Tafeln. Wir retten pro Jahr 265 000 Tonnen dieser Lebensmittel und geben sie zu symbolischen Preisen an Menschen weiter, die auf Unterstützung angewiesen sind“, erklärt Andreas Steppuhn, Vorsitzender des Dachverbands der Tafeln in Deutschland. In Berlin-Köpenick zum Beispiel bekommt man für 1,50 Euro eine meist gut gefüllte Einkaufstasche. Was als Idee von einigen Frauen begann, hat sich über die Zeit zu einer der größten sozialen Bewegungen Deutschlands entwickelt. Heute verteilen 60 000 Helfende in bundesweit über 970 Tafeln Lebensmittel an bis zu zwei Millionen armutsbetroffene Menschen.

Ist es zynisch, in diesem Zusammenhang von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen? „Wir sind stolz auf das Engagement der vielen Helferinnen und Helfer. Aber natürlich zeigt unsere Arbeit auch, dass Armut in Deutschland ein massives Problem ist“, sagt Steppuhn. Denn auch diese Zahlen ­gehören dazu: Aktuell ist in Deutschland ­etwa jede siebte Person armutsgefährdet, muss also mit weniger als 1250 Euro im Monat auskommen. Für Familien, bestehend aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren, liegt der Wert bei 2625 Euro. Für etwa 14 Millionen Deutsche ist das Realität. Viele aus der Schlange in Berlin-Köpenick müssen mit noch weniger auskommen. Ein Ehepaar ganz vorne in der Schlange, 60 und 61 Jahre alt, beide auf einen Rollator gestützt und frühverrentet, kommt seit Mai zur Tafel. „1080 Euro Rente und 550 Euro Miete, da bleibt nicht viel“, rechnet der Mann vor.

Nur wenige wollen darüber sprechen.

Mal ist das Misstrauen zu groß, mal die Scham. „Am Ende steht man doch wieder als Sozialschmarotzer da“, murmelt ein älterer Mann und wendet sich ab. Andere sind offener: Oleksandr G. zum Beispiel. Er kommt aus der Ukraine, lebt aber schon seit über 20 Jahren in Deutschland. Er hat „mit Maschinen“ gearbeitet – aber nicht lange genug in die Rentenkasse eingezahlt, um im ­Alter gut über die Runden zu kommen. „Meine Frau und ich sind sehr dankbar für die Unterstützung“, sagt der 73-Jährige, der seit fünf Jahren zur Tafel kommt und die lange Wartezeit meist mit einem Buch überbrückt. „Was und wie viel man bekommt, ist jede Woche anders“, erklärt er. Verteilt werde, was da ist. Oft sind das Obst, Gemüse, Milchprodukte sowie Brot und Backwaren – was schnell verdirbt, landet eher bei der Tafel als Produkte wie Nudeln, Reis oder Marmelade, die man gut lagern kann. Oleksandr hofft jede Woche, dass Lebensmittel dabei sind, aus denen seine Frau ­Gerichte aus der Heimat kochen kann. Etwa Kohl für Borschtsch-Suppe, Sauerkirschen, Schweinespeck oder Kartoffeln. „Mit der deutschen Brotzeit bin ich nie so recht warm geworden“, sagt er und schmunzelt.

Ohne Bedürftigkeitsnachweis keine Lebensmittel

Wer die Angebote der Tafel nutzen will, muss seine Bedürftigkeit nachweisen. Ein Behördenbrief reicht dafür in der Regel aus. „Wir überprüfen das und vergeben dann eine Art Berechtigungsausweis“, sagt Carol Seele, der die Ausgabestelle in Köpenick leitet. Er hält einige laminierte Kärtchen in verschiedenen Farben hoch. Darauf sind Zahlen und Buchstaben vermerkt, „1E und 1 Ki“ zum Beispiel. Das steht für ein Erwachsener und ein Kind. „Nach den Kärtchen bemessen die Helfenden die Menge, die jeder bekommt“, erklärt Seele. Die Ausgabestelle in Köpenick gehört zu den wenigen, die noch niemanden abgewiesen hat. „Aktuell kommen jede Woche rund 600 Menschen, vor Corona waren es 250“, sagt Seele. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine verzeichnen die Tafeln durchschnittlich noch mal 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden. Längst nicht alle können den Andrang bewältigen; jede dritte ­Tafel in Deutschland nimmt vorübergehend keine neuen Kunden mehr an, viele führen Wartelisten. „Wir waren noch nie so sehr am Limit wie gerade“, bestätigt Andreas Steppuhn vom Verband.

Drinnen verteilen die Helfenden derweil die Nahrungsmittel – ein freundliches Lächeln und ein paar nette Worte gibt es obendrauf. Für viele ist der Termin bei der Tafel auch ein soziales Ereignis, weil Armut und Einsamkeit oft zusammenkommen. Normalerweise dauert die Ausgabe von 13 bis 16 Uhr. Aber im Moment ist selten vor den Abendstunden Schluss. Die Helfenden achten sorgfältig darauf, dass alle gleich viel bekommen. Und hören erst auf, wenn niemand mehr in der Schlange steht. „Bei uns geht keiner leer aus“, sagt eine Helferin und reicht einer Kundin einen Kopfsalat.

Ein „logistischer Kraftakt“

Der Salat lag wenige Stunden zuvor noch in einer Kiste auf dem Berliner Großmarkt in Moabit. Die Halle 01 dort ist das Herz der Berliner Tafel, die die erste in Deutschland war und bis heute die größte ist. Ab sieben Uhr morgens strömen die Fahrer aus, um ­Lebensmittel einzusammeln. Danach werden diese von Ehrenamtlichen sortiert und verpackt. Mittendrin: Sabine Werth, 66, Gründerin der Tafel. „Das Ganze ist ein logistischer Kraftakt“, sagt sie, „weil wir immer nur von Tag zu Tag planen können. Man weiß ja vorher nicht genau, welche Lebensmittel reinkommen und wie viele Helfende da sind.“ Als Werth die Tafel im Jahr 1993 gründete, war die Idee nur auf ein paar Monate ausgerichtet. „Wir wollten Lebensmittel, die in Berliner Hotels und Restaurants übrig blieben, in den Wintermonaten als warme Mahlzeit an Obdachlose verteilen“, erzählt die Sozialarbeiterin. Heute unterstützen die Tafeln mehr Menschen als je ­zuvor, 170 000 allein in Berlin. Kaschieren sie so das Versagen des Sozialstaates? Diesen Vorwurf hört Werth oft. „Die Politik müsste sicher mehr tun, aber solange ­Lebensmittelverschwendung existiert und Armut herrscht, tun wir pragmatisch etwas gegen beides. Allerdings unterstützen wir nur, wir

versorgen nicht“, sagt Werth. Der Unterschied ist ihr wichtig.

Mehr Bedürftige, weniger Ehrenamtliche

Werth will weitermachen, gerade jetzt. „Immer mehr Menschen brauchen Unterstützung, aber die Lebensmittelspenden und das ehrenamtliche Engagement gehen zurück“, erklärt sie. ­Supermärkte kalkulieren besser, damit ­weniger übrig bleibt. In Berlin bleibt trotzdem noch genug für die Tafeln, in ländlicheren Regionen sieht es oft anders aus. Überhaupt unterscheiden sich die Tafeln sehr: Rund 60 Prozent sind in Trägerschaft, etwa bei Diakonie oder Caritas, der Rest ist als Verein organisiert.

Einige buhlen um staatliche Zuwendungen, andere lehnen sie vehement ab. So auch Sabine Werth, der politische Unabhängigkeit wichtig ist. Statt auf Steuergelder setzt sie auf ihr Talent, Menschen zu vernetzen und auf soziales Engagement in der Wirtschaft. Die Kisten für die Lebensmittel? Gespendet. Die Sprinter-Flotte vor den Toren? Anteilig gespendet. Natürlich ist ihr klar, dass die Berliner Tafel nicht repräsentativ für alle ist. Das Ziel aber bleibt für jede Tafel in Deutschland gleich. „Wir machen weiter“, sagt Sabine Werth. „Solange die einen zu viel und die anderen zu wenig haben.“


Quellen:

  • Tafel Deutschland : 30 Jahre Tafeln in Deutschland. Online: https://www.tafel.de/... (Abgerufen am 14.09.2023)
  • WWF: WWF-Studie: Das große Wegschmeißen . Online: https://www.wwf.de/... (Abgerufen am 06.09.2023)
  • Tafel Deutschland : 30 Jahre Tafeln in Deutschland . Online: https://www.tafel.de/... (Abgerufen am 02.10.2023)
  • Destatis: Gut ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Online: https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 04.09.2023)
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales : Fragen und Antworten für Geflüchtete aus der Ukraine, Hier finden Sie häufig gestellte Fragen zu Arbeit und Sozialleistungen in Deutschland. Online: https://www.bmas.de/... (Abgerufen am 02.10.2023)
  • Tafel Deutschland : Armut in Deutschland auf dramatischem Höchststand: Zahl der Tafel-Kundinnen und -Kunden um Hälfte erhöht. Online: https://www.tafel.de/... (Abgerufen am 01.09.2023)
  • Tafel Deutschland : Zahlen und Fakten . Online: https://www.tafel.de/... (Abgerufen am 05.09.2023)