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Wie viel Potenzial in unseren heimischen Gifttieren steckt, erforscht eine Arbeitsgruppe um den Biochemiker Dr. Tim Lüddecke am Fraun­hofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie in Gießen.

Herr Dr. Lüddecke, Ihr Forschungsteam will mit Giften von Spinnen Krankheiten heilen. Wie kann das funktionieren?

Das ist eigentlich ganz einfach. Tiergifte schalten bei den Opfern, zum Beispiel Insekten, lebenswichtige Vorgänge wie die Atmung aus. Dazu docken die Inhaltsstoffe der Toxine gezielt an bestimmte Signalmoleküle an. Solche Moleküle gibt es auch im menschlichen Körper. Sie haben dort aber andere Aufgaben, etwa die Weiterleitung von Nervenreizen. Funktioniert die nicht normal, entstehen Krankheiten wie Epilepsie oder chronische Schmerzen. Weil die Tiergifte auf die Schlüsselmoleküle wirken, können wir sie zur Therapie der Krankheiten nutzen. Vereinfacht gesagt könnte also ein Wirkstoff, der eine Heuschrecke tötet, beim Menschen Migräne stoppen.

Gibt es schon Medikamente, die aus Tiergiften entstanden sind?

Ja, aktuell sind elf Wirkstoffe in – teilweise sehr umsatzstarken – Arzneien auf dem Markt. Dazu zählt zum Beispiel ein aus Schlangengift gewonnener Arzneistoff, aus dem die ACE-Hemmer zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt wurden. Und aus dem Toxin einer Echse ist ein Blutzuckersenker zur Therapie des Typ-2-Diabetes entstanden. Das Gift einer Meeresschnecke steckt in einem Präparat, das extrem starke Schmerzen lindern kann.

Schlangen, Echsen, Schnecken … Auf welche Gifttiere setzen Sie?

Wir konzentrieren uns auf heimische Spinnen und Insekten, weil man über ihre Gifte kaum etwas weiß. Wir haben unter anderem mit Ameisen, Honigbienen und sogenannten Pseudoskorpionen gearbeitet. Bei den Ameisen geht es darum, die Wirkdauer von Medikamenten zu verlängern, und Bienen sind interessant für die Krebstherapie. Das Gift der Pseudoskorpione kann antibiotikaresistente Keime ausschalten. Aber am meisten Potenzial haben Spinnen!

Warum?

Es gibt weltweit ungefähr 50 000 Spinnenarten, fast alle sind giftig und jedes ihrer Toxine ist ein komplexes Gemisch aus Hunderten, manchmal Tausenden Komponenten. Genauer untersucht sind bisher nur wenige, darunter nur zwei der etwa 1000 Arten, die in Deutschland leben. Irgendwo da draußen könnte sich also ein Schatz für die Wissenschaft verbergen. Erst seit wenigen Jahren haben wir dank moderner Biotechnologie überhaupt geeignete Methoden, um solche Analysen zu machen. Davor war das ein irrer Zeitaufwand.

Wie überzeugt man denn eine Spinne, ihr Gift zu Forschungszwecken abzugeben?

Man kann diese Tiere tatsächlich melken. Und zwar nicht nur große Arten wie die Vogelspinnen, sondern – mit extra konstruierten Apparaturen – auch Exemplare, die nur wenige Zentimeter klein sind. Die greift man mit einer Pinzette und „überredet“ sie mit leichten Stromreizen zur Giftabgabe.

Können Spinnengifte auch außerhalb der Medizin nützlich sein?

Es gibt noch einen zweiten, global gesehen sogar wichtigeren Anwendungsbereich: die biologische Schädlingsbekämpfung. Viele Spinnentoxine wirken sehr spezifisch nur gegen bestimmte Insekten. Man kann aus ihnen also Pestizide entwickeln, die nur die an den Pflanzen fressenden Schädlinge töten und andere Insekten verschonen. Bei vielen synthetischen Pestiziden, die derzeit weltweit in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen, ist das leider nicht der Fall. Aus Tiergiften gewonnene „Bio-Insektizide“ könnten somit einen Beitrag zum Artenschutz leisten. Sie werden außerdem in der Natur innerhalb von relativ kurzer Zeit abgebaut, während sich chemische Mittel oft im Boden und Wasser anreichern.

Gibt es solche Produkte schon?

Hierzulande noch nicht. Aber in Australien sind bereits zwei Bio-Insektizide auf dem Markt und weitere werden bald folgen. Die Australier sind weltweit gesehen die Pioniere der Tiergiftforschung, was nur logisch ist: Dort leben die meisten potenziell tödlichen Arten. Um gebissene Menschen retten zu können, hat man dort früh begonnen, die Giftcocktails chemisch zu analysieren und Gegenmittel zu entwickeln.


Quellen: