Logo der Apotheken Umschau

Frau Tietjen, wenn Ihnen damals als 17-Jährige jemand erzählt hätte, dass wir uns heute über Ihre damaligen Tagebucheinträge unterhalten, was wäre wohl die Antwort gewesen?

Oh, das hätte ich ausgeschlossen! Das war ja streng geheim. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass das jemand liest. Ich habe sogar Ereignisse verschlüsselt, weil ich dachte, man kann nie davon ausgehen, dass es wirklich niemanden in die Hände fällt.

Aber Sie haben gerade etliche Ihrer ­damaligen Tagebucheinträge in Ihrem neuen Buch veröffentlicht …

(lacht) Stimmt. Aber meine Einträge sind so lange her, das ist alles verjährt. Ich habe ja schon vor über 30 Jahren aufgehört, Tagebuch zu schreiben. Aber als ich da wieder reingeguckt habe, dachte ich: Das ist so interessant. Und eigentlich ist es viel zu schade, das weiterhin geheimzuhalten. Natürlich habe ich sorgfältig ausgewählt, welche Textstellen ich veröffentlichen möchte.

Ein paar Geheimnisse bleiben der Öffent­lichkeit also verborgen?

(lacht) Da ist noch Stoff, den wird nie jemand zu sehen kriegen!

Wie kam es dazu, dass Sie sich mit Ihren alten Tagebüchern beschäftigt haben?

Ich wollte ein neues Buch schreiben. Und dann habe ich so hin und her überlegt, was könnte man machen? Vielleicht eine Autobiografie? So etwas wird ja an einen herangetragen, wenn man über 60 ist. Das fand ich aber langweilig. Und dann sind mir die Tagebücher wieder in den Sinn gekommen, die ich als junge Frau zwischen 14 und 31 geschrieben habe. Ich habe gedacht: Die suche ich jetzt mal, die schaue ich mir näher an! Aber dann waren sie plötzlich weg.

Oh nein!

Ja! Da war die Panik groß. Ich war ganz verzweifelt. Zum Glück habe ich sie irgendwann im Keller wiedergefunden. Und dann begann der Prozess, sich der Vergangenheit zu stellen. Alles noch mal zu durchleben.

Wie ging es Ihnen dabei?

Ich habe die Tagebücher zweimal durchgelesen, bevor ich angefangen habe, mein Buch zu schreiben und die Einträge zu kommentieren. Ich musste erst mit allem im Reinen sein. Da waren Höhen und Tiefen. Ich habe schlecht geschlafen, meinem Mann viele Sachen erzählt. Mein ganzes Leben habe ich Revue passieren lassen.

Das klingt so, als hätten Ihre alten Tagebücher Sie ganz schön aufgewühlt …

Oh ja! Aber letztendlich war die Beschäftigung mit meinen Tagebüchern auch eine Art Selbsttherapie.

Was hat Ihnen diese Selbsttherapie gebracht?

Vor allem Selbstverständnis. Es war, wie ein neues Licht auf sich selbst zu werfen:
Herauszufinden, warum man der Mensch geworden ist, der man heute ist. Bin ich da, wo ich sein wollte? Wovon habe ich früher geträumt? Ist das alles eingetroffen? Ich bin aber zu dem Schluss gekommen, dass alles gut so ist, wie es ist.

Das hört sich nach Selbstfindung an.

Ja. Und ich kann jedem nur dazu raten. Ich finde, man sollte immer wieder hinterfragen, wo man ist und wer man ist. Und dafür sind Tagebücher natürlich eine ideale Grundlage. Aber auch wenn man keine Tagebücher geschrieben hat, finde ich es für jeden Menschen wichtig, in Gedanken zurückzugehen: Sein junges Ich wiederzuentdecken. Ich hätte das viel früher machen sollen.

Hat es Sie denn Überwindung gekostet?

Am Anfang ja. Es hat mich fast zu Tränen gerührt, was ich da aufgeschrieben habe. Richtig schlimm war es für mich, die Stellen über den Tod meiner Mutter zu lesen. Das war hart, da noch mal durchzugehen. Es war insgesamt ein Auf und Ab der Gefühle. Ich habe natürlich auch furchtbar lachen müssen über mich. Was mir damals alles wichtig war und diese ganzen Männergeschichten mit 17, 18. O Gott, peinlich!

Ihr junges Ich war Ihnen peinlich?

Manchmal schon. Besonders unangenehm ist mir, dass wichtige politische Ereignisse nicht vorkommen in meinem Tagebuch. Nicht mal der Mauerfall, obwohl ich damals beim RIAS Berlin gearbeitet habe. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich zu der Zeit Liebeskummer hatte und vor Wut und Trauer viele Seiten herausgerissen habe.

Hatten Sie sich anders in Erinnerung?

Teilweise war ich mir richtig fremd. Da ­habe ich mich beim Lesen schon gefragt:
O Gott, wirklich? Wie warst du denn drauf? Ich hatte das echt vergessen.

Neigen wir Menschen dazu, die Vergangenheit zu verklären?

Und wie! Es ist wirklich erstaunlich, wie mein eigener Kopf die Erinnerung verzerrt und zurechtgeschwindelt hat. Laut meinem Tagebuch war ich zum Beispiel ein einziges Nervenbündel, als ich meine Magisterarbeit geschrieben und mein Examen gemacht ­habe. Ich war echt fertig. Das hatte ich gar nicht so in Erinnerung. Ich habe meinen Kindern immer erzählt, dass ich keine Ängste hatte, dass ich total cool und unbeschwert war und mein Examen mit links gemacht habe.

Gibt es denn auch etwas, das Sie an Ihrem jugendlichen Ich beeindruckt hat?

Mich hat beeindruckt, wie reflektiert ich damals als junge Frau war. Ich habe viele Dinge und mich selbst sehr hinterfragt: Wie geht’s mir eigentlich? Warum habe ich auf das und das so und so reagiert? War heute ein guter Tag? Das sind alles Fragen, die ich mir auch heute wieder öfter stellen sollte.

Sie machen sich heute weniger Gedanken als früher?

Das finde ich ja so verrückt. Dass ich mit über 60 viel sorgloser bin als damals. Aber vielleicht muss man das auch sein. Weil die Zeit ja immer kürzer wird. Wenn man sich ständig in Sorgen zerfleischen würde, hätte man ja nichts mehr vom Rest seines Lebens.

Glauben Sie, die 17-jährige Bettina Tietjen wäre zufrieden mit Ihnen heute?

Ich denke schon. Nur mit meinem Wohnort nicht: Hamburg-Harburg (lacht). Da hätte sie sich schon ein bisschen was Aufregenderes gewünscht.

Im Ernst: Sind Sie der Mensch geworden, der Sie als junge Frau sein wollten?

In einer Hinsicht nicht. Ich dachte immer, ich werde irgendwas Künstlerisches: Regisseurin, Malerin oder Sängerin. Dann habe ich aber irgendwann eingesehen, dass das gar nicht meine Stärken sind und meine Talente woanders liegen. Was die Liebe angeht, hat sich mein Wunsch erfüllt: Ich habe genau den richtigen Mann kennengelernt! Das war immer mein wichtigstes Ziel in den Tagebüchern: die große Liebe finden.

Was würden Sie Ihrem jungen Ich mit der Erfahrung von heute gerne sagen?

Ich würde es beruhigen. Ihm sagen: Mach dich nicht so verrückt, mach dir nicht so viele Gedanken. Es wird alles gut. Aber im Grunde ist das ja Quatsch. Es muss ja sein. Man muss ja da durch. Wenn man keinerlei Sorgen und Probleme hat: Wie soll man denn da reifen?