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Wir sprachen mit dem Psychiater und Psychosomatiker Dr. Joachim Galuska, ehemals Ärztlicher Direktor, jetzt Gesellschafter der Heiligenfeld Kliniken für Psychosomatische Medizin, über das Phänomen „Corona Burn Out“ und Möglichkeiten des Gegensteuerns.

In Sachen Pandemie stehen die Zeichen auf Entspannung, das alte Leben kehrt mehr und mehr zurück. Zeit, aufzuatmen, möchte man meinem. Doch viele Menschen fühlen sich erschöpft und antriebslos. Wieso?

Zunächst: Ich finde es wichtig, dass wir nicht von der Gesellschaft oder den Menschen sprechen. Lassen Sie uns differenzieren. Vereinfacht finden sich, unabhängig von Corona, drei Gruppen. Da gibt es einmal diejenigen, die resilient sind, also eine gewisse psychische Widerstandsfähigkeit besitzen. Sie glauben, dass sie Wege finden werden und Herausforderungen bewerkstelligen können. Ihr Optimismus rührt aus der frühen Erfahrung, sich selbst und anderen vertrauen zu können. Einige sind durch Krisen gegangen, ohne dass sie dadurch dauerhaft Schaden erlitten hätte. Im Gegenteil: Die Erfahrung, Situationen meistern zu können, gibt ihnen Kraft und hat ihnen vermutlich auch in der Pandemie dabei geholfen, die gestiegenen Belastungen zu meistern. Dann gibt es eine zweite Gruppe, die mehr oder weniger dauerhaft damit kämpft, Anforderungen zu bewältigen. Auch diese Gruppe kann gut durchs Leben gehen und recht stabil wirken. Allerdings muss die Stabilität stetig erarbeitet werden und nur, wenn bestimmte gesundheitsförderliche Faktoren wie beispielsweise sportliche Betätigung, berufliche Bestätigung oder unterstützender sozialer Kontakt gegeben sind, sind diese Menschen in Balance. In einer dritten Gruppe fallen solche wie wir sagen „stabilisierende Faktoren“ weg und dann kann das Ganze kippen. Aus der Burn Out-Forschung wissen wir, dass es etwa nach sechs Monaten einer Belastungsphase zu ersten ernsthaften Problemen kommt.

Von was für Problemen sprechen Sie?

Oft kommt es zu körperlichen Symptomen wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen. Der Kern ist aber eine seelische Erschöpfung, die in einen Zusammenbruch münden kann. Wer derart leidet, bleibt von geöffneten Shoppingmeilen oder der Möglichkeit, endlich wieder Freunde treffen zu können, unberührt. Manch einer fühlt sich durch das Hochfahren des alten Lebens sogar zusätzlich unter Stress gesetzt.

Alle Welt freut sich und feiert, nur ich nicht – das verstärkt den Leidensdruck?

Richtig. Wobei der Druck ja keineswegs nur von innen kommt, auch die Anforderungen von außen kommen zurzeit ja verstärkt zurück beziehungsweise sind vielleicht größer als je zuvor. Da sind die Freunde, die meinen, es gäbe ganz viel nachzuholen. Da ist möglicherweise ein Arbeitgeber, der auf dem Standpunkt steht: Monate lang lief es auf Sparflamme, jetzt geben wir wieder richtig Gas. Die Rückkehr zur Normalität kann Angst machen.

Von „Reentry Anxiety“ sprechen manche, was so viel heißt wie: Sich durch die Rückkehr in die Normalität überfordert fühlen. Das Leben war runtergefahren und jetzt sollen wir plötzlich wieder in die Vollen gehen, aktiv werden – meinen Sie das?

Das veränderte Tempo kann, muss aber nicht das zentrale Thema sein. Bedenken wir: Die Kontaktbeschränkungen und der eingeschränkte Bewegungsradius hatten nicht unbedingt zur Folge, dass die Menschen passiv wurden. Generell gilt: Krisen wird gern durch Aktivität begegnet, hier und da sogar durch Überaktivität. Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das… Die ersten Anzeichen von Erschöpfung werden dann weggedrückt. Durch übermäßiges Essen zum Beispiel. Oder: Durch Alkohol, Online-Spiele, also durch Verhaltensweisen, die glauben machen, man käme weiterhin gut zurecht.

In Wirklichkeit funktioniert man aber nur?

Ja und im Sinne eines gesellschaftlichen Konsenses macht man ja auch alles richtig. Man bleibt zu Hause, trifft niemanden, hält sich an die Regeln. Aber diese Maßnahmen allein genügen eben nicht zur Bewältigung der Krise. In all den Monaten ist es vor allem darum gegangen, die Krise äußerlich zu bekämpfen. Ganz oben standen die biologischen Maßnahmen, Hygieneregeln, Impfen, Social Distancing. Das Virus zu vernichten war und ist das Ziel. Überspitzt gesagt sind wir in der ganzen Welt auf einen biologischen Organismus reduziert geworden. Die vielen Kollateralschäden, die durch die Missachtung des Seelischen entstanden sind, sehen wir nun nach und nach. Nicht nur in unseren Kliniken, überall in Deutschland, hat die Nachfrage nach psychosomatischen und psychiatrischen Behandlungen drastisch zugenommen. Darüber hinaus kann es nun auch zu sogenannten „Entlastungsdepressionen“ kommen: Eine gewisse Anspannung lässt nach, damit kommt Verdecktes an die Oberfläche.

Ein bisschen wie zu Beginn des Urlaubs: der Job-Stress fällt von einem ab, die Erkältung kommt?

Ein Stück weit ist das vergleichbar. Aber nur ein Stück weit. Denn die Grippe in den Ferien kommt vergleichsweise überraschend. Die Burn-Out Welle, die wir gerade erleben, kam mit Ankündigung. Dass die Menschen seelisch leiden, erleben wir ja bereits seit Monaten. Jetzt, vor dem Hintergrund der vielen Lockerungen, wird das Leid nur offensichtlicher. Wer sich noch vor wenigen Wochen zurückgezogen hat, fiel nicht weiter auf. Jetzt kommt das Gefühl „etwas stimmt nicht mit mir“ deutlicher an die Oberfläche.

Was raten Sie Menschen, die sich trotz Lockerungen weiter wie gefangen fühlen?

Es geht darum, dass man wieder gut mit sich selbst in Kontakt kommen kann. Kunst und Kultur sind solche wie wir sagen „Resilienz-Maßnahmen“. Wir verlassen gewohnte Bahnen, ändern den Blickwinkel, tauchen in neue Erfahrungswelten ein. Das ist sehr hilfreich für Menschen, die sich in erschöpfenden Mustern fixiert haben. Nicht ohne Grund nehmen Kunst-, Musik- und Gestalttherapie einen wichtigen Raum in der Behandlung seelischer Störungen ein: Im Erleben der eigenen Kreativität kommen wir raus aus der Enge. Und genau das ist es ja, worunter so viele Menschen derzeit leiden: Eine Zeit des Eingeengt-Seins liegt hinter uns. Jetzt geht es darum, wieder weit zu werden. Nicht nur im Außen, auch innen. Wir dürfen nicht erwarten, dass dies automatisch und wie von selbst geschieht.

Sondern?

Die Seele braucht jetzt einen Übergang. Je mehr sie vernachlässigt wurde, desto bewusster sollte dieser gestaltet sein. Tun wir nicht so, als könnten wir einfach weitermachen, wo wir vor anderthalb Jahren aufgehört haben. Corona hat tiefgehende Fragen berührt: wie wir leben wollen, vielleicht auch, wie wir sterben wollen. Ich persönlich sehe diese Krise vor diesem Hintergrund übrigens auch als Chance: Statt uns aus einer gewissen Getriebenheit heraus im gewohnten Fahrwasser zu bewegen, können wir innehalten und uns neu ausrichten. Und dabei vielleicht Dinge entdecken, die sonst im Verborgenen geblieben wären.

Aber kann das nicht zusätzlich unter Druck setzen: Wenn wir Corona neben einem reichlich fordernden Alltag jetzt auch noch als Chance sehen sollen?

Es geht hier nicht darum, etwas schönzureden. Die Belastung ist da. Der fordernde Alltag ist da, keine Frage. Aber wenn ich beginne, mich wieder mehr um mich zu kümmern, fange ich vielleicht an, beides zu sehen: Die Seite in mir, die leidet und überfordert ist. Und daneben die Seite, die hoffnungsvoll ist und voller Mut zum Vorwärtsgehen. In der Burn Out-Behandlung kommen wir einen großen Schritt weiter, wenn Patienten sehen: Ich bin das ja beides. Und: Ich bin derjenige, der sich in diesem Spannungsfeld durchs Leben navigiert.

Sie sprachen eben vom Innehalten. Das klingt gut, aber wenig greifbar. Und auch Kunst und Kultur sind nicht jedermanns Ding. Was gibt es noch für Möglichkeiten des Gegensteuerns, wenn man sich erschöpft und innerlich ausgebrannt fühlt?

Zweifelsohne: Das Gespräch, Sozialkontakte sind ein wie wir in der Fachsprache sagen wichtiger Regulationsfaktor. Wenn wir uns mit anderen austauschen, kommen wir ins Gleichgewicht. Wichtig ist allerdings die Frage, wie dieser Austausch aussieht. Ein Gegenüber, das nur Ratschläge erteilt, schadet. So wie natürlich jede Art von aufreibender Diskussion oder eskalierender Streit kraftraubend wirkt. Vergessen wir nicht: Corona war auch und gerade für das soziale Miteinander eine Herausforderung. Wieso gönnen wir uns also nicht eine Phase des bewussten und behutsamen Annäherns? Zum Beispiel mit dem Partner, mit dem man sich ein- oder zweimal die Woche zu einem Jour Fix verabredet. Und dann redet zehn bis 15 Minuten nur der eine – kein Kommentar vom Gegenüber! Einzig Fragen sind erlaubt. Danach wird gewechselt, die andere Seite erzählt. In funktionierenden Beziehungen und Freundschaften laufen Gespräche intuitiv genauso. In einer Zeit, in der Beziehungen um und auch über Corona teils stark belastet sind, kann es hilfreich sein, nachzuhelfen. Ja, gute, „echte“ Gespräche lassen sich trainieren.

Aber wieso tun Begegnungen eigentlich so gut – wo der andere mit seinen Rückmeldungen offensichtlich gar nicht so wichtig ist?

Rückmeldungen sind sicher auch wichtig, aber wir wollen uns verstanden fühlen und wir müssen in die Selbstreflexion kommen. Wir bemerken vielleicht zum ersten Mal seit langem, wie sehr wir uns um die immer gleichen Themen drehen. Oder auch: Wo verborgene Kräfte liegen, was uns hoffnungsvoll stimmt.

Aber kommt Freundschaft da nicht an Grenzen? Freunde sind ja schließlich keine Therapeuten, und der Partner auch nicht.

Das stimmt. Wer feststellt, dass er wie gefangen ist in wiederkehrenden Denkmustern oder unter Angst- oder Panikattacken leidet, sollte sich professionelle Hilfe holen. Ein Therapeut oder Berater erkennt in der Regel schnell, ob wenige Sitzungen zur seelischen Stabilisierung ausreichen, oder ob jemand für eine bestimmte Zeit in eine Klinik sollte, die auch eine spezielle Ausrichtung für Corona-Burnout-Patienten hat.

Kunst, Kultur, Gespräch… was tut Pandemie-gestressten Seelen noch gut?

Das ist individuell sehr verschieden. Probieren Sie unterschiedliche Dinge aus und prüfen Sie, was passiert, sage ich immer. Manch einer empfindet es als heilsam, einfach nur alleine im Wald spazieren zu gehen und die Natur auf sich wirken zu lassen. Ein anderer fühlt sich wohl, wenn er regelmäßig meditiert. Aber nicht jeder profitiert, wenn er still wird und das eigene Innere beobachtet. Eine schöne Methode, sich selbst zu begegnen, kann das Schreiben sein. Wie geht es mir? Was beschäftigt mich gerade? Möglicherweise füllen sich die Seiten des Blocks an einem bestimmten Plätzchen im Garten besonders leicht. Und ziemlich sicher gelingt die jeweilige Methode besser, wenn sie zur Routine wird. Ich selbst nutze die Methode der so genannten „Morgenseiten“ der US-Autorin Julia Cameron, um mir im Schreiben zu begegnen. Erst kam ich bei meinen Aufzeichnungen manchmal vom Hölzchen aufs Stöckchen. Inzwischen brauche ich nur einen Stift und mein Büchlein zur Hand zu nehmen und schon bin ich in einem anderen Zustand. In einem Zustand, in dem ich erkennen kann, wie es mir gerade im Leben geht.