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Dieser Beitrag ist im Juli 2022 im Diabetes Ratgeber erschienen. Familie Tsarova hat inzwischen eine Wohnung in Dresden gefunden, Karyna besucht die 9. Klasse eines Gymnasiums, hat Freunde gefunden und ist in Deutschland gut angekommen.

Es ist Sommer. Die ukrainischen Häppchen — Blinis mit Fleischfüllung, Eier mit Dorschleberpastete und Schwarzbrot mit Sprotten — erinnern Familie Tsarova bei ihrem Picknick in Dresden an eine unbeschwerte Zeit in der ukrainischen Heimat. Der Kriegsbeginn am 24. Februar hatte für sie alles verändert. Plötzlich flogen Kampfflugzeuge über Kiew, warfen Bomben ab.

Insulin? Im ukrainischen Krieg Mangelware

Gerade bei Diabetes sind regelmäßige Mahlzeiten aber wichtig. Sicher sei der Unterschlupf nicht gewesen, berichtet die Mutter. Der nächste Luftschutzkeller lag etwa 20 Minuten von Karynas Zuhause entfernt. Nach einem Alarm sollte man sich aber innerhalb von fünf Minuten verstecken.

Iryna bot an, die Familie aufzunehmen. Sie lebt seit 20 Jahren in Dresden. Karynas Vater Sergij brachte Frau und Tochter an die polnische Grenze, erzählt Anna Tsa­rova: „Überall war Stau, weil viele wegwollten. Wir haben mit dem Auto 24 Stunden bis nach Polen gebraucht, sonst dauert es acht.“ An der Grenze der tränenreiche Abschied vom Ehemann und Vater: Er wollte in der Ukraine bleiben und seine Landsleute unterstützen. Gemusst hätte er als Angehöriger einer Diabeteserkrankten nicht.

Die Odyssee nimmt kein Ende

Das Abstempeln der Pässe am nächsten Morgen dauerte dann nur zwei Minuten. Die Mutter vermutet, dass die Beamten nicht wussten, wohin mit den vielen Menschen. Die wenigsten seien wie sie abgeholt worden. Bis nach Dresden war es noch mal ein langer Ritt. Mehr als zwei Tage war die Familie insgesamt unterwegs. Fast ohne Schlaf, fast ohne Essen.

1448 km - Das war die Strecke von Kiev nach Dresden. Karyna und ihre Mutter Anna flohen unter anderem über Lemberg und Breslau zur Tante.

1448 km - Das war die Strecke von Kiev nach Dresden. Karyna und ihre Mutter Anna flohen unter anderem über Lemberg und Breslau zur Tante.

Hürden der Bürokratie

Kaum angekommen, mussten die Tsarovas angemeldet werden und sich schnellstens um die Diabetes-Therapie kümmern. Die Tante ging zu den Ämtern mit und übersetzte. Mit einem Krankenbehandlungsschein bekam das Mädchen in der Internationalen Praxis des Dresdner Uniklinikums zwar Rezepte für Insulin, Blutzucker-Messstreifen und Pen-Nadeln.

Doch dann begannen die Probleme: Karyna benutzte in Kiew ein CGM-System, das ihre Tante mit 120 Euro monatlich übernahm. In der Ukraine sind die Sensoren für Kinder mit Typ-1-Diabetes, anders als in Deutschland, nicht kostenlos. „Damit sich Karyna nicht wieder ständig piksen muss, um ihren Zuckerwert zu messen, wollten wir versuchen, das CGM-System in Deutschland erstattet zu bekommen“, erzählt Iryna Moor. Die Firma, die die Sensoren vertreibt, beharrte aber auf einer Versicherungsnummer. Und die hatte Karyna nicht. Das Rezept verfiel. Glück im Unglück: Eine Kinderdiabetologin versucht nun, die Bewilligung zu beschleunigen. Derweil schenkte sie Karyna mehrere Sensoren, um zu überbrücken.

Pumpe? Momentan lieber nicht

Hierzulande hätte Karyna sogar die Möglichkeit zu einer für sie kostenfreien Pumpentherapie. Aber sie möchte das nicht. Sie sei noch nicht bereit für eine Pumpe, wolle keinen Schlauch und kein Gerät an ihrem Körper tragen, sagt sie. Zudem müsste sie, sollte sie nach Hause zurückkehren, ohnehin wieder zum Pen greifen. „Ein Krankenversicherungssystem wie in Deutschland gibt es dort nicht“, erläutert Iryna.

Seit ihrer Flucht wohnt die Familie bei der Tante. Nun sucht sie nach einem neuen Zuhause. Doch auf eine Wohnung kommen rund 20 Bewerber. Karyna hat in Dresden schon Anschluss gefunden, besucht einen Jazz-Funk-Kurs. Ihre Freunde in Kiew, vor allem der Papa, fehlen ihr trotzdem sehr.

„Ob wir für immer bleiben, müssen wir gemeinsam als Familie entscheiden“, sagt Anna Tsarova und wischt sich eine Träne ab. In Kiew hatte sie ein Geschäft für Diabetes-Lebensmittel, entwickelte Rezepte für zuckerfreie Snacks. In Dresden müsste sie wieder bei null anfangen. Die Wahl zwischen einer besseren medizinischen Versorgung für Karyna in Deutschland und der Vertrautheit der Heimat fällt schwer. Vorausgesetzt, der Krieg endet und die Familie hätte dann in Kiew noch eine Zukunft.