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Wenn man zehn Monate alt ist, ist die Welt wahnsinnig spannend. Sie kann aber auch sehr beängstigend sein. Immerhin befindet man sich als kleiner Wicht schnell mal auf Augenhöhe mit einem neugierigen Hund; heranrasende Autos erscheinen riesengroß. Es passiert so vieles, das man nicht versteht. Dann brauchen Kinder vor allem Eltern oder enge Bezugspersonen, die ­ihnen signalisieren: alles in Ordnung, ich passe auf dich auf, dir passiert nichts. Doch es gibt eine ganz banale alltägliche Situation, in der den Kleinen dieser Kontakt fehlt – bei der Spazierfahrt im Buggy. Das Kind schaut nach vorne, Mutter oder Vater hat es im Rücken.

"Die Eltern meinen es gut, sie wollen ihrem Kind etwas bieten, ihm die Welt zeigen", sagt Inka Müller, Diplom-Sozialpädagogin von der Erziehungsberatungs­stelle der Arbeiterwohlfahrt in Saalfeld-Rudolstadt.

Inka Müller ist Diplom-Sozialpädagogin bei der Erziehungsberatungs­stelle der Arbeiterwohlfahrt in Saalfeld-Rudolstadt in Thüringen

Inka Müller ist Diplom-Sozialpädagogin bei der Erziehungsberatungs­stelle der Arbeiterwohlfahrt in Saalfeld-Rudolstadt in Thüringen

Bei Stress brauchen Babys Blickkontakt

Warum aber braucht das Kind den Blickkontakt zu den ­Eltern? Schon Neugeborene sind auf ­diese Art der Kommunikation ange­wiesen. "Sie erfahren dadurch Ur­vertrauen und lernen die Welt und sich selbst kennen", erklärt Bärbel Derksen, Diplom-Psychologin am Familienzentrum der Fachhochschule Potsdam. Wenn die Eltern mit Blicken signalisieren "Es ist alles gut", fühlen sich die Kleinen behütet und entwickeln Selbstvertrauen. Werden Babys älter, kommunizieren sie zunehmend auf andere Weisen. Sie tauschen zum Beispiel Gegenstände aus, deuten auf Dinge oder plappern auch schon mal. "Die Häufigkeit des Blickkontakts nimmt ab, aber seine Bedeutung wird gezielter", sagt Inka Müller. Gerade in ungewohnten, stressigen Situationen rückversichern sich Babys über Blicke bei ihren Eltern, dass ihre kleine Welt heil ist.

Bärbel Derksen ist Diplom-Psychologin am Familienzentrum der Fachhochschule Potsdam

Bärbel Derksen ist Diplom-Psychologin am Familienzentrum der Fachhochschule Potsdam

Zu viele Eindrücke führen zu Reizüberflutung

Und genau das fehlt ihnen, wenn sie im Buggy unterwegs sind. Viele Eltern wechseln jedoch zu einem solchen Gefährt, sobald das ­Baby sitzen kann. Einfach, weil es praktischer ist und sich im Auto leichter transportieren lässt. Dabei können die kleinen neugierigen Minis zwar viel sehen, aber sie sind noch nicht in der Lage, all die Eindrücke, die auf sie niederprasseln, zu verarbeiten. "Tatsächlich führt diese Situation häufig zu ­einer Reizüberflutung bei den Kleinen", erklärt Expertin ­Inka Müller. Sie sind überfordert mit dem, was sie sehen. Manche Babys weinen dann, viele werden aber auch still und saugen intensiv an ihrem Nuckel oder der Flasche – und das nicht, weil sie Durst haben.

Fremdelphase besonders problematisch

Besonders die Zeit zwischen zehn und 14 Monaten gilt als sensibel. Viele Kinder fremdeln dann sehr stark. "Das ist eine schwierige ­Phase, in der die Kleinen viele Reize aufnehmen und verarbeiten müssen", erklärt Bärbel Derksen. "Schnelle Situationen – Menschen, die beim Bummel durch die Innen­stadt vorbeihetzen, fahrende Autos, Lärm und vorbeifliegende Gesprächsfetzen – können Kleinkinder nicht einordnen, wenn sie in gewisser Weise auf sich gestellt sind", ergänzt ­Inka Müller. Mama und Papa sind in solchen Situa­tionen besonders gefragt, weil sie ihren Kindern Schutz bieten und ihnen helfen, ihre Gefühle zu verstehen. Wie es ihrem Nachwuchs geht, können Eltern aber nicht beobachten, wenn sie ihn im Buggy fahren.

Blickkontakt mit den Eltern entspannt das Kind

In ruhigen Umgebungen, ­etwa bei einem Waldspaziergang, kann man Babys getrost mit dem Blick nach vorne schieben. Aber in den meisten Situationen profitieren Babys und Kleinkinder davon, wenn sie so gefahren werden, dass sie Mutter oder Vater ansehen können. Eine Studie der Universität von Dundee in Schottland untermauert dies. So ließ die Entwicklungspsychologin Dr. ­Suzanne Zeedyk mehr als 2700 Eltern-Kind-Paare beim Kinderwagenschieben beobachten und analysieren. Sie fand heraus, dass Eltern und Kinder mehr mit­einander kommunizierten, wenn sie sich anblicken konnten. Und die Kleinen weinten seltener und lachten häufiger. In einem weiteren Experiment ­stellte die Wissenschaftlerin fest, dass Kinder, die mit Blick nach vorne geschoben wurden, ­eine erhöhte Herzfrequenz hatten, also gestresster waren. Kleine, die hingegen zur Mutter schauten, schliefen häufiger ein, sie konnten sich besser entspannen.

Mangel an geeigneten Modellen

"Ideal wären Buggys, die man in beide Richtungen schieben kann", sagt Bärbel Derksen. Die Stiftung "für kinder", die von dem renommierten, 2011 verstorbenen Familientherapeuten Wolfgang Bergmann gegründet wurde, hat daher auch an die Hersteller einen offenen Brief geschrieben. Darin fordert sie mehr Buggys mit verstellbarer Sitzfläche.

Mittlerweile wird die Auswahl an solchen Modellen langsam größer. Alternativ raten beide Expertinnen, den Nachwuchs erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres in ­einen Buggy zu setzen und bis dahin, wenn möglich, den Kinder­wagen zu nehmen. "Vor allem Babys, die schwer zur Ruhe kommen und Reize intensiv wahrnehmen, muss man vor zu vielen Umweltreizen schützen", sagt Bärbel Derksen. Wenn der Buggy unvermeidbar ist, sollten Eltern immer wieder mal stehenbleiben, um den Blickkontakt mit dem Kind zu suchen und zu schauen, ob es gerade Schutz oder Beruhigung braucht.