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Die Portion Spaghetti flößte Anna Schmidt (Name geändert) schon Angst ein, als sie nur den Speiseplan für die anstehende Woche las. Hatte sie doch monatelang nur den Bruchteil eines Brötchens gefrühstückt, mittags einen Apfel, abends ­etwas Gemüse gegessen. Bis sie kaum mehr die Kraft hatte, aufzustehen.

Gerettet haben die 64-Jährige ein Buch, ein Arzt und eine Freundin. Sie las einen biografischen Roman, dessen Protagonistin ihrer Magersucht erliegt: „Da habe ich gemerkt: Ich will nicht sterben.“ Sie rief bei der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee an und sprach mit einem Arzt: „Er meinte, ich habe eine Chance.“ Eine Freundin fuhr sie in die Klinik, als nach etwa einem halben Jahr ein Therapieplatz frei wurde.

Magersucht ist eine potenziell tödliche Krankheit. „Ältere Patienten geraten noch schneller in einen lebensbedrohlichen Zustand als jüngere“, warnt Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, ärztlicher Leiter der Schön Klinik Roseneck, einer Fachklinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen. „Untergewicht macht sie anfälliger für Infekte, Herzprob­leme und Stürze, schädigt Organe und Knochen und führt zu einer starken körperlichen Schwäche.“

Hunger betäubt Gefühle

Für Außenstehende ist es schwer nachzuvollziehen, wie Menschen sich dieses Hungern antun. „Die Erkrankung gaukelt Betroffenen vor, ihr Leben unter Kontrolle zu haben“, sagt Voderholzer. Während es ­ihnen in Wirklichkeit entgleitet. Oft tritt sie in Zeiten des Umbruchs auf, bei Einsamkeit, Konflikten oder Verlusten. Dr. Simone Herberger sieht einen zweiten Grund, warum ­Betroffene an der Magersucht festhalten: „Der Hunger betäubt Gefühle, die schwer auszuhalten sind.“ Die Psychotherapeutin behandelt an der München Klinik Menschen mit ­einer Essstörung.

Kaum zu ertragen war Anna Schmidts Leben, als sich vor fünf Jahren die Magersucht einschlich. Vor ihr war bereits ihre Tochter erkrankt. Tag und Nacht kümmerte sich Schmidt um die 17-Jährige, flehte sie an, mehr zu essen. Trotz drastischen Untergewichts meisterte diese ihr Abitur und ließ sich endlich stationär behandeln. Während sie in der Therapie aufblühte – und sich deutlich von der Mutter distanzierte –, aß Anna Schmidt selbst immer weniger. Ihr Partner hatte sie verlassen, ihre Eltern starben. Ihren Job als Lehrerin hatte sie verloren: So untergewichtig und krank, wie sie war, wollte man sie nicht mit Kindern arbeiten lassen.

Dass eine Magersucht so spät das erste Mal ausbricht, ist selten. Betroffene über 40 hatten meist ­früher schon eine Krankheitsepisode oder leben seit Jahrzehnten mit Unterge­wicht. Woher die Magersucht kommt, ist nicht abschließend geklärt. Neben einer genetischen Veranlagung scheinen ein hoher Leistungsanspruch, niedriges Selbstwertgefühl, Ängstlichkeit und ein schwieriger Umgang mit Essen in der Familie Risikofaktoren zu sein. Auch Traumata können zugrunde liegen. Betroffene berichten von ­Unzufriedenheit mit dem Körper, bei Älteren kommen oft noch Ängste vor dem Altern hinzu. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer.

Weg zum gesunden Gewicht

Die Behandlung zielt auf Körper und Seele ab. In einer Pschotherapie wird an den individuellen Themen der Betroffenen und an deren Körperbild gearbeitet. Parallel müssen die Patientinnen und Patienten ein gesundes Gewicht erlangen. „Wir schließen mit ihnen einen Behandlungsver­trag ab, wie viel sie wöchentlich zunehmen sollen“, schildert Expertin Herberger. Eine milde Form der Magersucht kann ambulant behandelt werden. Unterschreiten Betroffene einen bestimmten Body-­Mass-Index (BMI), müssen sie in einer Klinik therapiert werden. Menschen, die nah am Verhungern sind, müssen in eine speziali­sierte Klinik oder notfalls auf eine Intensiv­station.

Nur: Wie bringt man Betroffe­ne dazu, sich in Therapie zu begeben? Nahestehende fühlen sich oft machtlos. „Das Schlimmste, was sie tun können, ist wegschauen“, so Voderholzer. „Aber auch bei jeder Mahlzeit streiten hilft nicht.“ Sie sollten stattdessen ihre Sorge ausdrücken, Therapieoptionen ansprechen. Und sich im Zweifel selbst Beratung holen.

„Am Ende hilft nur essen, das habe ich erkannt“, erzählt Schmidt. So bezwingt sie den Teller Pasta. Versucht, damit zurechtzukommen, dass sie die Älteste in den Thera­piegruppen ist. „Es ist hart zu sehen, wie die jungen Mädchen ins Leben hinausgehen, während ich nicht weiß, was in meinem Leben noch kommen soll.“ Doch dass da ­etwas kommt, darauf wächst die Hoffnung in ihr. Etwa sechs Wochen nach Beginn der Therapie kann sie bis zum nahe gelegenen Chiemsee gehen – ohne Rollstuhl. Und sie beginnt wieder zu träumen. „Ich würde so gerne wieder unterrichten“, sagt sie. „Vielleicht kann ich woanders neu anfangen, am liebsten auf Sylt. Da habe ich mit meiner Tochter Urlaub gemacht, als sie klein war.“

Hier finden Sie Hilfe

Infos zu Beratungsangeboten liefert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: bzga-essstoerungen.de

Freie Therapieplätze werden auf der Seite des Bundesfachverbands Essstörungen an­gezeigt: bundesfachverbandessstoerungen.de/service/freie-therapieplaetze

• Der Verein ANAD (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) bietet telefonische und Online-Beratungen an: anad.de


Quellen:

  • Herpertz S, Fichter M, Herpertz-Dahlmann B et al.: S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. Leitlinie: 2018. (Abgerufen am 14.09.2023)

  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Allgemeine Fragen zu Essstörungen. https://www.bzga-essstoerungen.de/... (Abgerufen am 14.09.2023)
  • Ott R, Grolimund S: Essstörungen bei älteren Menschen. In: Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 23.03.2018, 16: 11-14
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Ursachen und Auslöser von Essstörungen. https://www.bzga-essstoerungen.de/... (Abgerufen am 14.09.2023)
  • Berufsverbände für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.: Magersucht: Ursachen & Risikofaktoren . https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/... (Abgerufen am 14.09.2023)
  • IVAH Institut für Verhaltenstherapie- Ausbildung Hamburg : Wie oft treten Essstörungen auf?. https://www.ivah.de/... (Abgerufen am 14.09.2023)