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Er sei „nicht gut drauf gewesen“ nach Corona und nach einer Hautkrankheit, erzählt Christoph Michelsen*. „Ich hatte starke Stimmungsschwankungen und war oft niedergeschlagen“, erinnert sich der 71-Jährige aus Hamburg an diese Zeit. Eine gute Bekannte erkannte bei ihm die Anzeichen einer Depression und riet: „Du musst etwas dagegen tun!“ Doch die Vorstellung, eine Psychotherapie zu ­beginnen, schreckte Michelsen ab. Durch Zufall las er in der Zeitung von einem neuartigen Gruppentraining, das ein Forscherteam am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg entwickelt hat, um die Versorgung von älteren Menschen mit Depression zu verbessern und die Wartezeit auf eine Therapie zu überbrücken. „Einstieg ins Training jederzeit möglich, hieß es“, so Michelsen. Das gefiel ihm. Kurz entschlossen meldete er sich an.

Trübsal ist ein Warnsignal

Kein Appetit, keine Energie, Konzentrations- und Schlafstörungen, schwindendes Selbstvertrauen und das Gefühl, wertlos zu sein: Jeder fünfte Mensch über 65 Jahre zeigt wie Michelsen Symptome einer Depression. Unter Bewohnern von Seniorenheimen sind es sogar bis zu 50 Prozent. Wer jetzt denkt, trübe Stimmung sei im Alter normal, irrt. „Trotz teils schwerer Schicksalsschläge bewahrt sich die Mehrheit der Menschen über 65 ihre Lebensfreude“, sagt Martin Hautzinger, Seniorprofessor der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Tübingen. Er forscht zu Depression im fortgeschrittenen Lebensalter. Das Risiko für Depression steige jedoch, wenn es nicht gelinge, veränderte Lebensumstände und gesundheitliche Einschränkungen zu akzeptieren und sich damit zu arrangieren. „Betroffene fokussieren sich dann zunehmend auf Misserfolge und fehlende Perspektiven und neigen zu negativen Denkmustern. Das fördert ­Depressionen“, so Hautzinger.

Diagnose kommt oft spät

Eine Psychotherapie kann helfen, doch nur wenige ältere Menschen erhalten sie – in vielen Fällen werden depressive Symptome nicht oder spät erkannt. „Wenn ältere Menschen sich etwa wegen einer Herz­erkrankung oder eines Rückenleidens ärztlich behandeln lassen, werden Symptome einer Depression oft den körperlichen Erkrankungen und ihren Folgen zugeschrieben“, so Hautzingers Erfahrung. ­Hinzu kommt: Depressive Symptome sind im Alter oft leichter ausgeprägt und werden deshalb seltener ­erkannt. „Und dann tun sich Ältere oft schwer, über ihre seelische Verfassung zu sprechen“, so Hautzinger. Doch selbst wenn die Diagnose gestellt wurde, heißt das nicht, dass auch eine Therapie folgt. Die medizinische Leit­linie empfiehlt Psychotherapie und bei Bedarf zusätzlich Medikamente gegen Depression. Das gilt für junge und alte Menschen gleichermaßen. Der Anteil von Senioren und Seniorinnen in Psychotherapie liegt laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe jedoch bei gerade einmal sechs Prozent. Manche ­Therapeuten und Therapeutinnen würden Ältere erst gar nicht auf die Warteliste setzen, weil sie ihnen geistige Veränderungen nicht mehr zutrauen, so Hautzingers Einschätzung. Doch das ist ein Vorurteil! Natürlich können Menschen auch im höheren Lebensalter krank machende Denkmuster durchbrechen und Depressionen überwinden.

Programm spricht Ältere an

Eine Möglichkeit ist ein Training, wie etwa das Hamburger Programm, an dem Christoph Michelsen teilgenommen hat: Es trägt den Namen MKT-Silber (Metakognitives Training bei Depression im Alter) und basiert auf der kognitiven Verhaltens­therapie. In kleinen Gruppen lernen die Teilnehmer durch unterhaltsame und interaktive Übungen anhand von Beispielen aus dem täglichen Leben, wie sie negative Denkmuster auflösen können. Die Psychologische Psychotherapeutin Dr. Brooke Schneider hat das Programm gemeinsam mit Prof. Steffen Moritz und Prof. Lena Jelinek am UKE Hamburg entwickelt. Mehrere Einrichtungen in Hamburg bieten das Training derzeit an, unter anderem der von der Stiftung Hamburger Hilfsspende unterstützte Verein „Insel“.

Einstieg ist jederzeit möglich

„Wir setzen auf spielerische Weise bei Denkmustern an, die die Wahrnehmung auf uns selbst, die Welt und unsere Zukunft trüben. Solche Denkverzerrungen haben viele. Bei Menschen mit Depression sind sie nur ausgeprägter“, so Schneider.

Das Training besteht aus acht Modulen und ist für drei bis acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer konzipiert. Weil die Einheiten nicht aufeinander aufbauen, können Interessierte jederzeit einsteigen. In den Sitzungen nehmen sie eine Vogelperspektive auf das eigene Denken ein, hinterfragen negative Denkmuster und erarbeiten Alternativen. Schneider: „Das wird auch als Metakognition bezeichnet – also das Denken über das Denken.“ Ergänzend dazu werden ungünstige Verhaltensweisen wie sozialer Rückzug oder Grübeln betrachtet. Christoph Michelsen erinnert sich an seine erste Sitzung: „‚Machen Sie sich mal keine Gedanken, dass hier etwas Beunruhigendes passiert‘, begrüßte uns die Trainerin. So fühlte ich mich von Anfang an gut aufgehoben“, erzählt er. „Übertriebene Verallgemeinerungen“ stand auf der Folie, die die Trainerin vorlas. Michelsen lernte: Das ist eine Denkverzerrung, die viele Menschen unbewusst anwenden, um Misserfolge oder negative Ereignisse zu bewerten – etwa: „Immer verlege ich meine Brille. Ich Idiot!“

Gruppentraining ist wirksam

Einige Teilnehmer schmunzelten, auch Michelsen erkannte sich wieder. „Plötzlich wurde mir bewusst: Ich bin nicht allein! Diese negativen Gedanken sind gar nicht außergewöhnlich“, beschreibt er seinen persönlichen Aha-Moment. Gemeinsam überlegte die Gruppe, wie solche Denkweisen kontinuierlich die Stimmung trüben. Wäre eine positive Deutung denkbar? Zum Beispiel: „Ich habe heute meine Brille verlegt. Das ist nervig, aber ich kann sie ja künftig an einem bestimmten Platz ablegen.“

Eine aktuelle Studie des UKE Hamburg bestätigt, dass die Gruppentherapie wirkt. ­Bei Teilnehmern und Teilnehmerinnen des MKT-Silber hatten sich drei Monate nach Ende des Trainings die depressiven Symptome gegenüber einer Kontrollgruppe deutlich verbessert. Welche Mechanismen genau dahinterstecken und inwieweit andere Gruppenangebote ähnlich wirken, ist noch unklar. „MKT-Silber ist ein Einstieg in die Psychotherapie, der sich für Menschen mit leichter bis mittelgradiger Depression und ­depressiven Symptomen eignet. Bei schwereren Formen benötigen Betroffene eine intensivere Behandlung“, zeigt Schneider die Grenzen des Trainings auf. Martin Hautzinger beurteilt Gruppenprogramme wie MKT-Silber ebenfalls positiv: „Besonders als Ergänzung zu einer Psychotherapie oder um Wartezeiten auf ­einen Therapieplatz zu überbrücken.“

Teilnehmer geben sich Halt

Der offene Austausch schweißte die Gruppe zusammen, erinnert sich Christoph Michelsen: „Wir treffen uns auch nach Ende des Trainings weiterhin regelmäßig, um gemeinsam aktiv zu sein und uns gegenseitig zu unterstützen.“ Nicht nur deshalb gehe es ihm heute viel besser. Im Gruppentraining hat er viel für sich mitnehmen können: „Ich gehe heute rücksichtsvoller mit mir um, bin stolz auf meine handwerklichen Fähigkeiten und muss nicht mehr perfekt sein.“