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Ans Aufhören hat er nie gedacht. Ganz im Gegenteil: Im vergangenen Jahr ist Jakob Berger mit 72 noch mal neu durchgestartet. Wie es dazu kam? Bereits 1982 hatte Dr. Berger eine Hausarztpraxis in Meitingen bei Augsburg eröffnet. Vor einigen Jahren holte er seinen Sohn, ebenfalls Arzt, mit in die Praxis. „Das lief gut, aber es wurde doch auch Zeit, dass mein Sohn sein eigenes Ding machen kann“, so Berger rückblickend. Also überließ er dem Sohn die Praxis. Doch anstatt sich nun in den Ruhestand zu verabschieden, hat Jakob Berger direkt eine neue Praxis eröffnet.

Ausschlafen und gemütlich frühstücken? Keine Zeit! Jeden Morgen bimmelt weiterhin der Wecker, damit der passionierte Hausarzt rechtzeitig ins 40 Kilometer entfernte Wemding kommt. Dort beginnt pünktlich um acht Uhr seine Sprechstunde. „Ich habe immer gerne gearbeitet. Warum sollte ich aufhören? Solange ich gesund bin, werde ich für meine Patientinnen und Patienten da sein“, sagt Berger entschlossen. Damit ist der Arzt aus Bayern nicht allein. Die Statistiken zeigen, dass hierzulande immer mehr Menschen im Ruhestand einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. In den vergangenen 25 Jahren hat sich der Anteil der erwerbstätigen Rentner fast verdreifacht: von fünf Prozent im Jahr 1996 auf mittlerweile 14 Prozent. In öffentlichen Debatten wird öfter thematisiert, dass finanzielle Gründe die Ursache seien. Ökonomin Dr. Laura Romeu Gordo entgegnet: „Die Annahme, dass im Ruhestand vorrangig aus finanzieller Not gearbeitet wird, ist nicht haltbar. Die Gründe sind wesentlich vielfältiger.“ Romeu Gordo forscht am Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin zum Thema „Erwerbstätigkeit im Ruhestand“. Die wichtigsten Beweggründe für arbeitende Rentnerinnen und Rentner seien „Spaß an der Arbeit, das Bedürfnis, einer sinnvollen Aufgabe nachzugehen und der Kontakt mit anderen Menschen“, so die Ökonomin.

Noch nie so gut wie jetzt

Auch für die Berlinerin Angelika Marie-Luise Weiß sind das wichtige Gründe. Früher war sie Dramaturgin am Theater, mit Anfang 50 machte sie sich als Präsentationstrainerin selbstständig. Noch heute berät und trainiert sie Manager und Führungskräfte darin, in Meetings und auf Konferenzen sicher und selbstbewusst aufzutreten. Aus ihrem Umfeld hört die 72-Jährige schon mal die Frage, ob sie nicht lieber weniger arbeiten und den Ruhestand genießen möchte. Für Weiß ist das aktuell keine Option. „Ich habe so viel Wissen und Erfahrungen angesammelt, da wäre es doch schade, wenn ich das nicht weitergeben würde. Ich war noch nie so gut wie jetzt“, erklärt sie.

Ähnlich sieht es Hausarzt Berger. „Ich bin auf dem Höhepunkt meines Wissens“, sagt er und widerspricht damit all jenen, die in der Diskussion um Berufstätigkeit im Ruhestand die Kompetenzen und das Wissen anzweifeln. Er habe sich konsequent weitergebildet und tue das natürlich auch heute noch. Berger liest Fachzeitschriften, besucht Kongresse und ist im Hausärzteverband aktiv. Die große Stärke von älteren Berufstätigen sieht er im Erfahrungswissen: „Durch meine langjährige Expertise kann ich schneller einschätzen, was meine Patienten wirklich brauchen.“ Coachin Weiß ergänzt: „Damit man am Ball bleibt, muss man sich sowohl inhaltlich als auch digital-technisch immer wieder fortbilden.“

Deutschlands graues Gold

In Deutschland fehlen in vielen Bereichen Fachkräfte. Menschen wie Jakob Berger und Angelika Marie-Luise Weiß sind entsprechend begehrt. Etliche Berufsverbände schlagen Alarm, weil ihnen die Fachkräfte wegfallen. Das kann ernste Folgen haben, etwa wenn die hausärztliche Versorgung gefährdet ist. In Schleswig-Holstein beispielsweise ist derzeit jeder dritte niedergelassene Hausarzt über 60 Jahre alt und plant, in den Ruhestand zu gehen. Schon jetzt gibt es für viele kaum noch Nachfolger, die dann ihre Praxis übernehmen. Der dortige Arbeitsminister Claus Madsen sprach in diesem Zusammenhang vom „grauen Gold“ und schlug vor, die Fachkräftelücke dadurch zu schließen, dass Ärzte länger berufstätig blieben. Auch in anderen Bereichen kommen immer wieder ähnliche Vorschläge auf.

Keine dauerhafte Lösung

Soziologin Laura Romeu Gordo betrachtet solche Perspektiven mit großer Skepsis: „Auch wenn der Anteil der berufstätigen Ruheständler steigt, wird dies kein Massenphänomen werden und sicher nicht die Lösung für den Fachkräftemangel.“ Es sei eine kleine Zahl von Menschen, die im Alter arbeiten. Die Expertin ergänzt: „Die Phase der Berufstätigkeit beschränkt sich für viele auf einige wenige Jahre. Ab 75 Jahren ist bei den meisten Schluss.“ Um den Fachkräftemangel zu beheben, müsse man an anderen Stellen schrauben.

Viele berufstätige Ruheständler bleiben ihrer bisherigen Tätigkeit treu. Manche reduzieren zum Beispiel die Stundenzahl. Für Angie Seiband war das keine Option. Sie wollte einen beruflichen Neustart. Die Münchnerin hat fast 40 Jahre als Sekretärin in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet. „Es war ein guter, sicherer Job, aber erst jetzt erlebe ich, wie erfüllend das Arbeiten sein kann“, so die 66-Jährige. Durch Zufall erfuhr sie vom Café Kuchentratsch. Dort arbeiten ausschließlich Rent­nerinnen und Rentner. Sie backen Kuchen, verkaufen diesen im Café und über den Onlineshop.

Jeden Mittwoch radelt Angie Seiband zum Café und übernimmt dort mit anderen Omas und Opas eine Backschicht. „Ich bin privat sehr aktiv, gehe klettern und radeln, kümmere mich um meine Enkeltochter, aber doch hatte mir eine Aufgabe gefehlt“, erzählt Angie Seiband. Ihre Arbeit im Café gibt ihr genau das. Dazu kommen die sozialen Kontakte und das gute Gefühl, eine wertschätzende Tätigkeit zu erledigen. „Es macht mir großen Spaß hier“, sagt die Münchnerin. Und sie ist überzeugt: „Das Arbeiten hält mich geistig und körperlich fit.“

Finanzielle Unterstützung

Auch wenn der soziale Aspekt für viele berufstätige Ruheständler im Vordergrund steht, spielt die finanzielle Situation durchaus eine tragende Rolle. „Alles wird teurer und das ist schon ein Problem, gerade in einer Stadt wie München. Ich komme mit meiner Rente so nicht hin“, schildert Angie Seiband ihre Situation. Das Gehalt im Café gibt ihr finanzielle Sicherheit und ermöglicht der unternehmungslustigen 66-Jährigen, Ausflüge und kleine Urlaube zu unternehmen.

Bei Angelika Marie-Luise Weiß ist das Geld ebenfalls ein Argument für ihre anhaltende Berufstätigkeit. Immer wieder wird sie von Bekannten und Freunden gefragt, ob sie nicht aufhören wolle. Sie könne stattdessen doch die schönen Dinge des Lebens genießen. Dann erklärt die 72-jährige Berlinerin ihnen: „Die schönen Dinge kann ich mir nur leisten, weil ich arbeite!“ Weiterarbeiten, um das tägliche Leben zu sichern – das ist definitiv ein bitterer Aspekt der Berufstätigkeit in höherem Alter. Doch Jakob Berger, Angelika Marie-Luise Weiß und Angie Seiband möchten auch unabhängig davon so lange weitermachen, wie es ihre Gesundheit erlaubt. Denn sie sind sich einig: „Die Arbeit macht einfach Spaß und ist ein wichtiger Teil des Alltags“, sagt Hausarzt Berger.


Quellen:

  • Felix Petruschke: Arbeiten im Alter, Fast jeder vierte erwerbstätige Rentner ist selbstständig. Verband der Gründer und Selbständigen Deutschland e.V.: https://www.vgsd.de/... (Abgerufen am 01.07.2023)
  • IAB-Kurzbericht: Rentnerinnen und Rentner am Arbeitsmarkt, Erwerbsarbeit im Ruhestand hat vielfältige Gründe – nicht nur finanzielle. https://doku.iab.de/... (Abgerufen am 01.07.2023)
  • Kassenärztliche Bundesvereinigung: Ärztemangel. https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 01.07.2023)