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Sind Sie schon mal gestürzt? Diese Frage sollen Hausärztinnen und Hausärzte wenigstens einmal im Jahr ihren älteren Patientinnen und Patienten stellen. Das empfiehlt Professor Clemens ­Becker, Chefarzt der Klinik für Geriatrische Rehabilitation am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Gemeinsam mit rund 100 Wissenschaftlern aus aller Welt hat er jetzt die erste globale Sturzleit­linie verfasst. Das Ziel der Initiative: das Thema Stürze endlich in den Vordergrund zu rücken.

Weniger Klinikeinweisungen

Denn obwohl es bei Weitem nicht neu ist, wird das Thema viel zu oft ausgeklammert. In der Hausarztpraxis komme es meist nur zur Sprache, wenn eine Patientin oder ein Patient schwer gestürzt ist und ins Krankenhaus musste, sagt Clemens Becker. Doch selbst dann erhalten viele Betroffene nicht die Betreuung, die sie bräuchten, um den nächsten schweren Sturz zu verhindern. „In diesem Punkt gibt es hierzulande große Behandlungsdefizite“, so der Experte. Dabei könnte die Zahl der Krankenhauseinweisungen nach einem Sturz um 20 Prozent sinken, wenn man gezielt vorbeugt.

Die neue Leitlinie setzt deshalb schon an viel früherer Stelle an. Demnach sollen alle älteren Erwach­senen künftig deutlich umfangreicher als bisher darüber aufgeklärt werden, wie sie Stürzen vorbeugen können. Neben gezielten Nachfragen soll außerdem jede ältere Person, die zum Beispiel Probleme hat, selbstständig aufzustehen, eingehend untersucht werden. Bislang ist das meist erst bei wiederholten Stürzen der Fall. Und das, obwohl in Deutschland jedes Jahr mehr als 400 000 Knochenbrüche bei älteren Menschen behandelt werden. Die meisten davon entstehen durch einen Sturz.

Nach aktuellen Erkenntnissen steigt das Sturzrisiko aufgrund von Gebrechlichkeit, wenn das Schritt­tempo 0,8 Meter in der Sekunde unter­schreitet. Deshalb soll künftig auch eine Messung des persönlichen Gehtempos zur ärztlichen Untersuchung gehören.

Sanft nachhaken

Doch so wichtig es auch ist, das Thema Hinfallen ganz offen anzusprechen: Gerade am Anfang braucht es einiges Fingerspitzengefühl, damit sich ältere Menschen ihrer Ärztin oder ihrem Arzt anvertrauen können. „Wir sollten auf die Patienten eingehen, ohne ihnen unnötig Angst zu machen oder ihnen etwas überzustülpen“, sagt Becker.

Schweigen aus Scham

Zumal sie sich vielleicht sorgen, dass man ihre Selbstständigkeit einschränken könnte. Das bestätigt auch Professorin Tania Zieschang, Direktorin der Universitätsklinik für Geriatrie am Klinikum Oldenburg. Vielen Menschen falle es nicht leicht, über Stürze zu sprechen. Sie erzählen auch ihrer Ärztin oder ihrem Arzt oder ihren Angehörigen nicht davon, sondern behalten es lieber für sich. „Das hat oft mit dem Gefühl zu tun, dem Alltag nicht mehr gewachsen zu sein“, sagt Zieschang. Dazu kommt die Angst. Einige hätten Sorge, wieder hinzufallen. „Auch ein Sturz ohne Knochenbruch kann dazu führen, dass sich Patienten aus Angst zurückziehen und weniger aktiv sind“, sagt die Expertin. Dabei kann gerade eine solche Übervorsichtigkeit weitere Stürze begünstigen.

Dennoch sieht Tania Zieschang nicht nur ältere Menschen in der Verantwortung. Den Zuständigen im Gesundheitswesen, aber auch der Gesellschaft allgemein müsse bewusst werden, wie wichtig das Thema ist. So müsste zum Beispiel im öffentlichen Raum viel kritischer nach Stolperfallen geschaut werden.

„Das reicht von der losen Steinplatte bis hin zu unübersicht­lichen Straßenübergängen. Gerade Fußgänger­ampeln müssen so gestaltet sein, dass man in Ruhe und ohne Hektik rübergehen kann“, sagt Zieschang. Eine seniorenfreundliche Lösung könnte zum Beispiel sein, die Sekunden bis zur nächsten Rotschaltung anzuzeigen. Das ist in manchen Ländern schon jetzt üblich.

Bei einer Reise nach Japan ist ­Tania Zieschang aufgefallen, dass Busfahrer erst dann losfahren, wenn alle ihren Platz gefunden haben. Auch darauf könnte man hierzulande mehr achten. Durch entsprechend geschulte Busfahrer oder eine Vorschrift könnten Stürze im öffentlichen Nahverkehr vermieden werden. Und es würden sich mehr ältere Menschen trauen, den Bus zu nehmen, so Zieschang.

Aufmerksamkeit wecken

Ein weiterer wichtiger Baustein ist, dass bestehende qualitäts­geprüfte Angebote sichtbarer gemacht werden. In Deutschland gebe es eine Datenbank der Krankenkassen mit rund 400 000 Angeboten von Bewegungsprog­­rammen, berichtet Sturzexperte Becker. Dabei handelt es sich um geprüfte Programme, die von den Krankenkassen mit einem Qualitätssiegel ausgezeichnet und von diesen in der Regel auch bezuschusst werden. Doch viele Menschen wissen gar nicht, dass es in der eigenen Nachbarschaft solche Sportkurse gibt, sogar gezieltes Anti-Sturz-Training. Über die Zentrale Prüfstelle Prävention können Interessierte im Internet nach passenden Kursen in ihrer Nähe suchen.

„Ein weiteres Angebot ist das Programm ,Trittsicher durchs Leben‘, das wir mit aufgebaut haben“, be­richtet Becker. Dafür hatte sich das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart unter anderem mit der ­Sozialversicherung für Landwirtschaft, Fors­ten und Gartenbau und dem Deutschen Turner-Bund zusammengeschlossen. Das Programm unterstützt ältere Menschen im ländlichen Raum dabei, möglichst lange fit zu bleiben. In Kursen verbessern die Teilnehmerinnen und ­Teilnehmer ihre Kraft und Balance und erhalten Tipps, wie sie Stolperfallen rund um Haus und Hof beseitigen können.

„Das Programm wird sehr gut angenommen, aber wir haben es trotzdem noch nicht flächendeckend umgesetzt“, sagt Becker. „Wir erreichen damit einige Zehntausende, aber nicht einige Millionen. Trotzdem: Das ist die Richtung, in die wir uns bewegen sollten.“

Wohnung baulich anpassen

Auch Yvonne Jahn würde sich einen aktiveren Umgang mit dem Thema Sturzprävention wünschen. Jahn arbeitet bei der Gesellschaft für Prävention im Alter (PiA) e. V., einer Wohnberatungsstelle, die an die Hochschule Magdeburg-Stendal angebunden ist. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen berät sie ältere Menschen und deren Angehörige in Fragen rund um das Thema Wohnen. „Zu uns kommen Menschen, die sich über Hilfsmittel und bauliche Anpassungsmaßnahmen informieren möchten oder gemerkt haben, dass sie in ihrer Wohnung nicht mehr zurechtkommen “, erklärt Jahn.

Auf Wunsch besucht die Wohnberaterin ältere Menschen sogar in ihrem Zuhause, um konkrete Probleme zu besprechen und Stolperfallen ausfindig zu machen.

Gezielt informieren

Doch nicht jeder weiß von diesem Angebot. Oder bittet von sich aus um Unterstützung. An diesem Punkt müsse man ansetzen, sagt Jahn. Wohnungsunternehmen könnten zum Beispiel Mietern ab einem bestimmten Alter Tipps für sicheres Wohnen zukommen lassen. Manche Kommunen würden schon jetzt Hausbesuche anbieten, um ältere Bürger zu beraten. Das könnte man flächendeckend umsetzen.

Auch auf Infoveranstaltungen in der Nähe könnte man aufmerksam machen, findet die Wohnberaterin: „Das alles würde dabei helfen, das Thema aktiv an ältere Menschen heranzutragen und so viele Stürze wie möglich zu verhindern.“

Bewegung

Wo ist das Problem? Wenn Balance, Muskelkraft und Ausdauer abnehmen, steigt das Sturzrisiko.

Was kann ich tun? Besonders wirksam ist ein Balance- und Krafttraining für die Beinmuskulatur. Ausdauertraining alleine reicht nicht aus. Im Gegenteil: Ist man bereits etwas wackelig auf den Beinen, ist das Sturzrisiko beim Ausdauertraining sogar noch größer. Aber auch im Alltag viele Schritte zurückzulegen kann Balance und Ausdauer verbessern – und damit auch das Sturzrisiko mindern.

Sinne schärfen

Wo ist das Problem? Die falsche Brillenstärke oder Probleme mit den Ohren: Beides kann sich negativ auf das Gleichgewicht auswirken.

Was kann ich tun? Experten raten dazu, einmal im Jahr Sehschärfe und Hörvermögen überprüfen zu lassen. Auch die erweiterte Vorsorge beim Augenarzt ist wichtig, denn viele Krankheiten wie grauer oder grüner Star lassen sich gut behandeln. Hörprobleme oder Schwindel sollte man unbedingt beim Hausarzt ansprechen. Wenn nötig kann er an einen Facharzt oder eine Fachärztin überweisen.

Tabletten prüfen

Wo ist das Problem? Es gibt Medikamente, die Gleichgewicht und Reaktionszeit beeinträchtigen können.

Was kann ich tun? Schlafmittel, Beruhigungsmittel, Antidepressiva, Neuroleptika und viele andere Arzneimittel können Wachheit und Aufmerksamkeit beeinträchtigen. Wer Medikamente einnimmt, kann beim Hausarzt oder in der Apotheke nachfragen, ob dadurch das Sturzrisiko erhöht ist. Auch wenn man öfter an Schwindel leidet, sollte man das unbedingt ansprechen. Die Autoren der neuen Leitlinie gehen noch einen Schritt weiter: Sie empfehlen Hausärztinnen und Hausärzten, mindestens einmal im Jahr die Medikamente älterer Patienten durchzugehen. So können sie überprüfen, ob man bei manchen Medikamenten die Dosis verringern oder sie sogar ganz absetzen kann. Medikationsanalysen, also einen Check aller Medikamente, die jemand einnimmt, führen auch viele Apotheken vor Ort durch.

Ordnung halten

Wo ist das Problem? Lose Kabel, zugestellte Flächen oder der Hund, der einem plötzlich vor die Füße läuft: Im eigenen Zuhause lauert so manche Stolperfalle.

Was kann ich tun? Kleine Maßnahmen reichen oft schon aus. Im Bad können zum Beispiel Handgriffe den Alltag erleichtern. Auch an der Treppe sollten die Handläufe an beiden Seiten angebracht sein. Die Stufen markieren, zum Beispiel mit Leuchtstreifen. Wichtig: Treppenhaus und Wohnräume sollten stets gut beleuchtet sein. Gerade bei nächtlichen Toilettengängen ist das Sturzrisiko erhöht. Hier leisten Bewegungsmelder gute Dienste. Außerdem darauf achten, dass die Wege freigeräumt sind.

Ursache finden

Wo ist das Problem? Stürze können auch medizinische Ursachen haben.

Was kann ich tun? Bei einer sogenannten Synkope werden die Betroffenen bewusstlos. Ihr Gehirn wird dann für kurze Zeit nicht richtig mit Sauerstoff versorgt. Auch wenn die meisten schnell wieder ansprechbar sind, kann der Sturz schwere Folgen haben. Wer merkt, dass ihm schwindlig wird: sofort hinsetzen. Die Ursache von Kreislaufproblemen und Ohnmacht sollten zudem dringend ärztlich abgeklärt werden.


Quellen:

  • Montero-Odasso M, van der Velde N, Martin F et al.: World guidelines for falls prevention and management for older adults: a global initiative. Age and Ageing: https://academic.oup.com/... (Abgerufen am 15.10.2022)
  • Deutsches Gesundheitsportal: Knochenbrüche im Alter: Fitness, gutes Sehen und Hören um Stürze zu vermeiden. Online: https://www.deutschesgesundheitsportal.de/... (Abgerufen am 02.11.2022)
  • Deutsche Gesellschaft für Geriatrie: Altersmediziner veröffentlichen erste globale Sturzleitlinie: „Wir könnten Krankenhauseinweisungen um 20 % reduzieren“. Online: https://idw-online.de/... (Abgerufen am 20.10.2022)
  • Rapp K, Freiberger E, Todd C et al.: Fall incidence in Germany: results of two population-based studies, and comparison of retrospective and prospective falls data collection methods. BMC Geriatrics: https://bmcgeriatr.biomedcentral.com/... (Abgerufen am 01.12.2022)
  • Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau: Trittsicher durchs Leben. Online: https://www.trittsicher.org/... (Abgerufen am 02.12.2022)
  • Deutsche Gesellschaft für Geriatrie: Patientenbroschüren: Sturzgefahr mit Kraft- und Balanceübungen vermindern . Online: https://www.dggeriatrie.de/... (Abgerufen am 16.11.2022)
  • AOK: Sturzprophylaxe im Alter: So verhindern Sie Stürze. Online: https://www.aok.de/... (Abgerufen am 01.11.2022)