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Wer vermitteln möchte, dass etwas Neues besser ist als das Gewohnte, bringt am besten ein Beispiel. So erzählt Martina Hein von der Caritas Sozialstation Westerburg-Rennerod gern die Geschichte eines älteren Herrn, der seit Jahren Kunde des Pflegedienstes ist. Allein lebend und mit beginnender Demenz habe sich der Mann in den vergangenen Jahren sehr zurückgezogen. Vor einigen Wochen trat ein Wandel ein. „Der Patient wurde offener“, berichtet die Krankenschwester, „er suchte das Gespräch und wurde motivierter, selbst einen Teil der Körperpflege zu übernehmen.“ Auch sein Ernährungszustand habe sich verbessert – er hätte mehr Appetit.

„Das ist eine Folge unseres neuen Konzepts“, ist Hein überzeugt. Seit September 2022 bietet die Sozialstation statt der üblichen Leistungspakete wie der „großen Morgentoilette“ auch Zeitbudgets an – Zeit, die Pflegeteam und Kunde flexibel nutzen können. So komme es an manchen Tagen vor, dass ihr Beispielpatient keine Körperpflege wünscht. Früher habe das Pflegeteam wieder abziehen müssen, ohne eine Leistung erbringen zu können. Jetzt können die Mitarbeiter alternativ etwa beim Essen Gesellschaft leisten. „Der Kunde überlegt sich vorher auch selbst, wie wir die 45 Minuten gestalten wollen“, freut sich Hein. Allein das sorge für Anregung. Sie ist sicher: „Das ist die Zukunft der ambulanten Pflege.“

Neue Pflege braucht das Land

Gute Ideen benötigt die Pflege dringender denn je. Mit Fachkräftemangel hat die Branche seit jeher zu kämpfen – die Corona-Pandemie mit ihren zahlreichen Personalausfällen aber hat das Problem verschärft. Viele Heime müssen Plätze leer lassen, weil sie nicht die nötige Fachkräftequote erreichen. Manche ambulanten Pflegedienste können keine neuen Patienten annehmen, denn sie sind schon mit den bisherigen Kunden mehr als ausgelastet. Umgekehrt zeigen Befragungen, dass pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen vielfach schlecht darüber informiert sind, was ihnen zusteht. Dabei verschlingt das System von Jahr zu Jahr mehr Geld: Allein die Ausgaben der gesetzlichen Pflegekasse betrugen 2021 knapp 54 Milliarden Euro – im Jahr 2017 lagen sie noch bei rund 38,5 Milliarden Euro. Auch der Eigenanteil im Heim ist in der Vergangenheit ständig gestiegen. Allerdings steuern die Pflegekassen seit Anfang 2022 mit einem sogenannten Leistungszuschlag gegen.

Einen der Knackpunkte im deutschen Pflegewesen sieht Prof. Ga-
briele Bartoszek darin, dass „viel Wert auf Versorgung gelegt wird, aber wenig auf Fördern und Fordern“. „Reha vor Pflege“, „ambulant vor stationär“ – solche Formeln hat die Politik zwar festgeschrieben. In der Praxis passiere aber wenig, um Pflegebedürftigkeit vorzubeugen oder sie zu lindern, kritisiert die Pflegewissenschaftlerin von der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die deutsche Sozialversicherung einen sauberen Trennstrich zieht: für Heilung, Linderung und Vorbeugung ist in erster Linie die Krankenkasse zuständig, für Pflege und Betreuung die Pflegekasse. Wie mühsam es ist, diese Grenze zu überspringen, hat Bartoszek selbst bei einem interprofessionellen Modellvorhaben mitbekommen, das sie wissenschaftlich begleitet hat. Das Projekt der Dresdner Stadtmission verband Kurzzeitpflege für ältere Patienten nach einem Klinikaufenthalt mit einem Reha-Angebot. „Es war schon extrem schwierig, überhaupt eine Stelle für einen Physiotherapeuten finanziert zu bekommen.“

Heim mit Ein- und Ausgang

Einer, der sich seit Jahrzehnten beharrlich den starren Strukturen entgegenstellt, ist der Altenpfleger und Sozialpädagoge Oskar Dierbach. Ende der 1990er-Jahre fiel dem damaligen Heimleiter im Haus Ruhrgarten in Mülheim auf, dass immer mehr ältere Menschen nach einem Aufenthalt im Krankenhaus „in die Pflegebedürftigkeit entlassen wurden“. Das könne doch nicht richtig sein, dachte Dierbach, und verwirklichte in den folgenden Jahren in der Mülheimer Einrichtung seine Vision einer „therapeutisch-rehabilitativen Pflege“. Das Heim stellte Bewegungs- und weitere Therapeuten ein, suchte den Schulterschluss mit Ärzten und Apotheken in der Stadt. „Wie kriege ich die Betroffenen wieder ins Leben zurück?“ sei die Leitfrage, die alle Beteiligten verbinde. In manchen Fällen – Dierbach gibt die Quote mit 15 bis 20 Prozent an – könnten die Bewohner nach Monaten im Heim wieder nach Hause. Aber auch bei denen, die in der Einrichtung bleiben, soll das Konzept Selbstbestimmung und Lebensfreude verbessern.

Um das Mehr an Personal bezahlen zu können, rang die Evangelische Altenhilfe den Kostenträgern extra Verträge ab. Geld für die Therapien kommt auch von einem Förderverein, den der Heimleiter unter anderem mit einem lokalen Apotheker gründete – Dierbach findet, ein Heim sollte vor Ort verwurzelt sein.

„Das jetzige System der Pflegeversicherung ist rein defizitorientiert“, schimpft Dierbach. Je höher der Pflegegrad, desto mehr Geld fließt ans Heim. Anreize, in die entgegengesetzte Richtung zu wirken, gibt es kaum. „Ihr Vorgehen ist doch geschäftsschädigend“ habe er aus der Branche zu hören bekommen.

Dabei könnte das Konzept sogar Geld sparen, berichtet der Gesundheitsökonom Jörg Artmann von der AOK Rheinland/Hamburg. Die Kasse berechnete, dass die Bewohner der Mülheimer Einrichtung seltener ins Krankenhaus müssen und weniger Medikamente brauchen, als es in anderen Heimen der Fall ist. Jetzt soll eine Studie in zwölf Einrichtungen klären, wie die therapeutisch-rehabilitative Pflege im Vergleich zur üblichen Versorgung abschneidet. Dabei geht es auch um die Zufriedenheit der Mitarbeiter.

Gut für alle Beteiligten

„Die Qualität der Beziehung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen ist der Schlüssel zum Erfolg“, hat Forscherin Bartoszek am Beispiel des Dresdner Projekts festgestellt.

Dort, wo in der Pflege neue Wege beschritten werden, lassen sich vielfach auch die Mitarbeiter wieder für den Pflegeberuf begeistern. So kann es passieren, dass manche Einrichtungen nicht nur eine Warteliste für Pflegebedürftige haben – sondern auch eine für Mitarbeiter. Viele der Pflegekräfte, die heute auf dem Pflegebauernhof von Gudio Pusch arbeiten, hätten ihren Beruf eigentlich schon aufgeben wollen, erzählt der Landwirt. Der Charme des Pflegealltags auf dem Hof bestehe schon darin, dass es keine festen Programmpunkte gebe. „Wir nehmen den Tag so, wie er ist.“ Wer von den Bewohnern mag und kann, liest die Eier auf, füttert Hasen und Gänse oder treibt die Rinder auf die Weide.

Anstöße von außen

Pusch hat den Betrieb im Westerwald, den seine Familie im Nebenerwerb führt, 2011 zum Pflegebauernhof erweitert. Heute arbeiten auch seine Frau und seine Tochter in dem Pflegedienst, der die Bewohner versorgt. Er selbst ist neben der Landwirtschaft als selbstständiger Maschinenbauer für die Autoindustrie tätig. Mehr Quereinstieg in die Pflege geht wohl nicht. Aber vielleicht ist es auch das, was die Branche braucht: Ideen aus allen Teilen der Gesellschaft.

Auch bei der Caritas-Sozialstation in Westerburg-Rennerod will man die Pflege breiter aufstellen. Zum neuen Konzept gehört, „Unterstützungspotenziale in der Nachbarschaft auszuloten“, sagt Hein, auch soziale Kontakte der Kunden wiederzubeleben, die eingeschlafen sind. Für den allein lebenden Herrn hat das Team etwas gefunden: ein Seniorennachmittag, zu dem man ihn begleiten würde. Ob es ihm dort gefällt? Man könne es ja mal ausprobieren.

Pflege 2023: Das große Warten

Die Ampelkoalition hatte sich für die Pflege viel vorgenommen. Umgesetzt wurde bisher wenig. „So sollte ab 2022 regelmäßig das Pflegegeld erhöht werden“, erklärt Madeleine Viol vom Sozialverband VdK. Bisher gebe es dafür aber keine konkreten Pläne. Gleiches gelte für die angekündigte bessere Absicherung von pflegenden Angehörigen, etwa in Form einer Lohnersatzleistung. Viol rechnet jedoch mit einer kurzfristigen Finanzreform – auch weil die Politik einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen muss. Demnach muss sich die Höhe des Beitragssatzes der Pflegeversicherung an der Zahl der Kinder bemessen – bisher spielt nur eine Rolle, ob man Kinder hat. Mitte 2023 soll es neue Personalschlüssel für Heime geben, die dem Pflegebedarf besser entsprechen sollen. Kritiker fürchten jedoch eine Verwässerung der Anforderungen an die Qualifikation des Personals.