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Heute bieten wir leider keine Nachmittagsbetreuung an, die Kita schließt um 13 Uhr.“ Hiobsbotschaften wie diese erreichen Eltern regelmäßig überall in Deutschland. Der Grund: Dramatische Personalengpässe in den meisten Einrichtungen. Zugleich wächst die Nachfrage nach Kitaplätzen. Seit 2013 haben Eltern ab dem ersten ­Geburtstag ihres Kindes Anspruch auf eine Betreuung. Doch längst nicht alle kommen tatsächlich unter. Bundesweit fehlen rund 430 000 Betreuungsplätze, wie aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem November 2023 hervorgeht. ­Besonders ­angespannt ist die Lage im Westen Deutschlands. Dort müssten mehr als 385 000 zusätzliche Plätze entstehen, um allen Eltern ihren Betreuungswunsch zu erfüllen.

Der Fachkräftemangel ist das größte Problem in deutschen Kitas: Anonym erzählen hier eine Erzieherin und ein Erzieher offen von zum Teil chaotischen Zuständen und einer zunehmend frustrierenden Arbeit in ihrer Einrichtung. Wir wollten wissen: Warum fehlt so viel Personal? Was ­bedeutet das für den Kita-Alltag und für die Familien? Und noch wichtiger: Welche Wege könnten aus der Krise führen? Aber schauen wir uns das ­Problem Personalmangel und seine Folgen erst einmal genauer an.

Mehr Kinder, zu wenig Personal

Heute arbeiten fast doppelt so viele Fachkräfte in den Kitas wie noch vor einigen ­Jahren. Und trotzdem fehlt Personal. Wie passt das zusammen? „Wir haben es in den zurückliegenden Jahren durchaus geschafft, mehr Fachkräfte für die Kita zu gewinnen“, sagt Bildungsexpertin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Deutlich stärker als die Personaldecke sei aber die Nachfrage nach Betreuungsplätzen ­gewachsen. „Heute verfügen immer mehr Mütter über eine höhere Berufsqualifikation und arbeiten genauso selbstverständlich wie Väter.“ In nicht wenigen Familien seien zudem schlicht zwei Gehälter nötig, um steigende Lebenskosten zu decken. So klaffen der Bedarf der Eltern und das Betreuungsangebot immer weiter auseinander. Mehr als 111 000 Fachkräfte fehlen laut Bertelsmann Stiftung bundesweit.

Hinzu kommt: Auch das Aufgabenpaket der Kita ist gewachsen. Integration und ­Inklusion etwa gehören als wichtige, aber eben auch personalintensive Aufgaben inzwischen ganz selbstverständlich dazu. Viele Erzieherinnen und Erzieher fühlen sich im Alltag überlastet, fast jede und jeder dritte klagt über ein hohes Stresslevel. Das geht aus einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hervor. Ein Viertel kann sich demnach sogar vorstellen, den Job wegen gesundheitlicher Probleme aufzugeben. „Das Burn-out-Risiko ist erschreckend hoch“, sagt Expertin Stein. Laut Krankenkasse DAK fallen Erzieherinnen und Erzieher besonders häufig aufgrund psychischer Belastungen aus. Das schreckt auch den Nachwuchs ab, viele scheuen inzwischen den Schritt in die Kita – ein Teufelskreis.

Protokoll 1: Erzieher, 33, aus Eberswalde in Brandenburg: „Es ist frustrierend“

Wenn bei uns jemand ausfällt, müssen wir oft die Öffnungszeiten reduzieren. Aus Personalmangel werden auch immer wieder Gruppen zusammengelegt. Einmal habe ich alleine drei Gruppen, also etwa 45 Kinder gleichzeitig betreut. Das ist dann wirklich nur Bedürfnisbefriedigung. Gemeinsam zu spielen oder Kreativität sind nicht mehr möglich. Es ist frustrierend und bremst einen aus. Als ich aus der Ausbildung kam, war ich wirklich sehr motiviert. Heute bin ich auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Ich hoffe sehr, dass die Kinder nicht unter der Situation leiden. Aber man kann auch nicht immer 100 Prozent geben. Man sieht es ja, dann brechen noch mehr Leute aus Erschöpfung weg.

Die Bildung bleibt auf der Strecke

Kitas sind Bildungseinrichtungen – zumindest in der Theorie. „In der frühen Kindheit wird das Fundament für die Persönlichkeitsentwicklung, aber auch für Bildungskarrieren gelegt“, sagt Anette Stein. Dabei geht es auch um Chancengerechtigkeit. „Kitas können das ausgleichen, was in der einzelnen Familie unter Umständen zu kurz kommt“, so Bildungsökonomin Prof. Larissa Zierow von der Hochschule Reutlingen. Kinder aus Familien, in denen etwa selten vorgelesen oder kein Deutsch gesprochen wird, profitierten ­besonders von der Kita-Zeit. Gerade sie gehen aber bei der Vergabe von Betreuungsplätzen vergleichsweise oft leer aus. Das zeigt eine Studie der ­Friedrich- Ebert-Stiftung. „Diese Kinder haben bei Schuleintritt schlechtere Bildungschancen als Gleichaltrige mit Kitaerfahrung“, erklärt Zierow.

Zugleich bleibt Bildung aber auch in den Einrichtungen selbst immer öfter auf der Strecke. Sprache, Motorik und Sozialverhalten – Erzieherinnen und Erzieher sollen die Kinder möglichst individuell fördern. Doch: Im Westen werden fast 62 Prozent der Kitakinder bei einem nicht kindgerechten Personalschlüssel betreut. In Ostdeutschland trifft das sogar auf fast 90 Prozent zu. „Bildung ist unter diesen Umständen kaum möglich“, so Stein. Laut einer Verdi-Umfrage sind fast 44 Prozent der ­Beschäftigten zu Spitzenzeiten für mehr als 17 ­Kinder gleichzeitig verantwortlich. Zum Vergleich: Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt für Krippen einen Personalschlüssel von 1:3 und im Kindergarten einen Wert von 1:7,5. Tatsächlich müssen neun von zehn Kita-Leitungen pädagogische ­Angebote aus Personalmangel streichen. Das ist auch gesamtgesellschaftlich eine fatale Entwicklung. „Studien zeigen, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen Investitionen in frühkindliche Bildung und dem allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft“, sagt Larissa Zierow.

Vor allem Mütter fangen den Mangel auf

Eltern – vor allem Mütter – bringt die Kita-Misere regelmäßig in die Bredouille. Denn bekommt ein Kind keinen Betreuungsplatz oder muss außerplanmäßig zu Hause bleiben, dann ist es meistens die Mutter, die zurücksteckt oder sicherheitshalber gleich in Teilzeit bleibt. ­„Besonders stark hat man das in der Pandemie gesehen“, sagt Larissa Zierow, „da kam es zu einem richtigen Rückfall in alte Geschlechterrollen. Mütter waren deutlich unzufriedener.“ Gleichzeitig können sich für Frauen schlechtere Einstellungschancen und Gehälter ergeben, wenn Arbeitgeber davon ausgehen, dass Mütter wegen der Kinderbetreuung häufiger ausfallen. Das schlage sich nicht nur im indivi-
duellen Einkommen ­nieder, so Zierow. „Weniger Frauen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten auch für die Gesamtgesellschaft weniger Fachkräfte und weniger Wohlstand.“

Protokoll 2: Erzieherin, 37, aus München: „Wir sind im Überlebensmodus“

Besonders im Herbst oder späten Winter, wenn uns vermehrt Krankheitswellen erreichen, fallen Fachkräfte aus. Man kommt dann in eine Art Überlebensmodus. Wir funktionieren gut als Team, doch es zehrt an uns. Selbst wenn alle Mitarbeitenden gesund sind, fehlt uns Personal. Das ändert sich vermutlich auch nicht so schnell, weil es gar keine Bewerber gibt. In den extremen Phasen ist man immer am Priorisieren. Ausflüge, Team-Besprechungen, die Anleitung der Azubis – so was fällt dann zuerst weg. Dann sinkt gegen unseren Willen auch die Qualität der Arbeit. Aktuell liegt unser Personalschlüssel bei 1:11. Erst wenn sich hier etwas ändert, könnten wir Kinder individueller fördern. Unsere Arbeit würde wieder mehr Bildung und Erziehung bedeuten statt nur Betreuung.

Auswege aus der Misere – das muss passieren

• Dauerhaft mehr Geld: „Neben Ländern und Kommunen muss sich auch der Bund finanziell stärker einbringen“, sagt Anette Stein. Zwar fließen mit dem Kita-Qualitätsgesetz zusätzlich vier Milliarden Euro über zwei Jahre in die frühkindliche Bildung. „Aber wir brauchen dauerhaft mehr Investitionen.“ Erzieherinnen und Erzieher müssten eine Strategie erkennen können, die ihnen bessere Perspektiven verspricht – nur so gewinne der ­Beruf an Attraktivität. Nötig seien „gesetzlich verankerte Stufenpläne mit verbindlichen Zielen für mehr Personal“.

• Gezielte Hilfe:Finanzspritzen sollten bestimmten Regionen zugutekommen, etwa Orten mit vielen bildungsfernen oder von Armut betroffenen Haushalten, sagt Ökonomin Larissa Zierow. „Das bringt mehr, als Geld mit der Gießkanne zu verteilen.“

• Mehr Verwaltungskräfte: Sie könnten administrative Aufgaben in den Kitas übernehmen und damit sofort für Entlastung sorgen. „Erzieherinnen und Erzieher könnten sich dann wieder stärker auf ihre pädagogische Arbeit konzentrieren“, sagt Stein. Sie fordert aber auch Mut für unpopuläre Ideen. „Politik, Praxis und Eltern müssen darüber sprechen, welche Aufgaben in Kitas vorübergehend ganz zurückgestellt und ob die Öffnungszeiten reduziert werden können.“

• Quereinsteiger: Sie kommen in vielen Bundesländern zum Einsatz, müssten in der Praxis allerdings eng ­begleitet werden, so Stein. „Auch dafür brauchen wir ­Personal.“ In vielen Kommunen wird zudem das Netz an Tageseltern ausgebaut. „Wenn man die Qualität überwacht und sich das Personal regelmäßig fortbildet, kann Tagespflege eine gute Lösung sein, um kurzfristig ­Betreuungsplätze zu schaffen“, sagt Zierow.


Quellen: