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Neulich habe ich meinen schlafenden Sohn angeschaut und gedacht: „Scheiße, ist der groß. Wann ist das eigentlich ­passiert?“ Es klingt ausgelutscht: Aber die Zeit rast. Die letzten zehn Jahre meines Lebens sahen zusammengefasst in etwa so aus: Ich bin ausgezogen. Ich habe ein Studium ­begonnen und es wieder abgebrochen. Bin gereist und habe ein neues Studium begonnen, nebenbei gekellnert. Ich habe mich getrennt. Ich habe getanzt, getrauert und mich neu verliebt. Ich habe ein Kind bekommen. Mein Studium beendet. Bin umgezogen und habe gearbeitet. Viel. Habe meinen Job gewechselt. Ich habe geheiratet. Ich bin wieder umgezogen. Ich bin 30 geworden. Ich habe meinen Sohn eingeschult.

Manche meiner Freunde sind Eltern, andere nicht. Doch wir alle haben etwas gemeinsam: Unsere Leben sind schnell. Die Kalender sind prallvoll. Teilweise mit schönen Dingen wie Hobbys, Festen, Kinobesuchen, Vorträgen. Und mit mittelschönen Dingen wie der Planung ebenjener Feste, der Einkommensteuererklärung, Kinderwunschbehandlungen, der Suche nach Betreuungsplätzen, der nächsten Deadline im Job … Die Listen nehmen kein Ende. Die Antwort auf die Frage „Wie geht’s?“ lautet stets: „Ach, bisschen viel los gerade“ oder „Bin im Stress“. So gut wie ausnahmslos.

Die Gleichzeitigkeit der Dinge

In der Soziologie nennt man die Lebensphase zwischen 25 und 40: die Rushhour des Lebens. Die Zeit, in der eben alles gleichzeitig passiert. Den Überblick über den Verkehr zu behalten fällt schwer: Rechts blockiert ein Lastwagen ­namens Erledigungen die Auffahrt, links bringt einen der Erkältungswellen-Cabrio ins Schleudern – und in der Mitte sitzt man selbst am Steuer und versucht die Spur zu halten. Viele werden gar von der Angst begleitet, dass sie es gar nicht mehr rechtzeitig zum Ziel schaffen. Der Schnellzug ­namens Fruchtbarkeit ist nämlich auch schon unterwegs. Dass viele sich laut Studien in diesen Jahren nicht gerade auf dem Höhepunkt der Zufriedenheit fühlen, leuchtet ein.

Irgendwo auf Instagram stand, dass es jetzt eine neue Generation von Frauen gibt: die, denen von ihren Eltern ­gesagt wurde, dass sie im Job alles erreichen und sein ­können. Ja, selbst Bundeskanzlerin oder Astronautin! Und deren Mütter ihnen gleichzeitig vorgelebt haben, dass eben doch die Frauen hauptsächlich für Haushalt und Co. verantwortlich sind. Meine Mutter hat drei Kinder großgezogen und es geschafft, dass unsere Wohnung immer tipptopp aussah. Jeden Tag, wenn ich um zwölf Uhr (!) von der Schule nach Hause kam, stand ein warmes Mittagessen auf dem Tisch. Vor ein paar Jahren erst habe ich begriffen, wie sehr meine Mama für die Familie zurückgesteckt hat.

Ich selbst bin völlig naiv in die Rushhour hineingerast. Ich habe mein Kind in den Semesterferien bekommen und nahtlos weiterstudiert. Ich war Anfang 20 – aus heutiger Perspektive selbst noch ein Kind. Mein Partner und ich haben uns all die Aufgaben so gleichberechtigt aufgeteilt, wie es eben nur irgendwie ging. Und sind trotzdem an vielen Punkten gescheitert.

Natürlich ist heute vieles besser als früher. Wir stecken nicht mehr im Weltbild der 1950er-Jahre fest. Es gibt Kinderbetreuung bis zum späten Nachmittag, zahlreiche Angebote zur Unterstützung, Haushaltshilfen, finanzielle Förderungen … Es gibt Väter, die wirklich versuchen, etwas zu ändern. Es gibt Chefinnen und Chefs, die Verständnis haben und Flexibilität ermöglichen. Aber die Wahrheit ist: Dadurch verringert sich die Geschwindigkeit, mit der man im Alltag unterwegs ist, zwar – aber man bleibt nicht stehen. Und selbst bei 70 km/h ist der Bremsweg immer noch verdammt lang.

Zu hohe Ansprüche

Wenn dazu noch Umstände kommen, die das Ganze erschweren, wird es richtig kompliziert. Wenn ich als Person mit einem Kind schon so am Kämpfen bin – wie geht es da den anderen? Ich habe keine pflegebedürftigen Eltern, um die ich mich kümmern muss. Mein Kind ist gesund. Warum sich Eltern – und vor allem Mütter wie ich – denn heutzutage überhaupt so viel aufladen, könnte man fragen. Manchmal finde ich mich selbst lächerlich. Denn ich will schlicht alles sein: grandios im Job, eine tolle, geduldige Mutter, geschmackvoll in der Wohnungseinrichtung – und dabei natürlich auch noch belesen. Und eine Person, die zweimal die Woche zum Sport geht, wäre ich bitte gerne auch noch. Klingt unrealistisch? Ist es auch! Und trotzdem ist da noch diese Stimme in mir, die mir sagt: Du kannst das alles haben – du musst dich nur genug anstrengen. Immer wenn ich Bücher von klugen Frauen wie Mareice Kaiser („Das Unwohlsein der modernen Mutter“) oder Patricia Cammarata („Raus aus der Mental-Load-Falle“) lese, nehme ich mir fest vor, Dinge sein zu lassen.

Eine Zeit lang funktioniert das dann. Ich weiß genau: Ich müsste die Einladungen für den Kindergeburtstag nicht mit meinem Sohn basteln, sondern könnte einfach eine Textnachricht verschicken. Klar interessiert es niemanden, ob das Bad vor zwei Tagen oder zwei Monaten geputzt wurde und ob auf dem ­Balkon Blätter verteilt sind. Selbstverständlich muss man sich am Wochenende nicht ständig mit Freunden treffen. Und ich hätte sogar die Möglichkeit, etwas ­weniger zu arbeiten, wenn ich das wollen würde. Aber mir sind all diese Dinge wichtig. Mein Job, die selbst gebastelten Einladungskarten, der von Blättern befreite Balkon. Ich bin diejenige, die aufräumt, bevor der Besuch kommt (und danach wieder). Warum? Weil ich meinen oder vermeintlich anderen Ansprüchen gerecht werden will. Ich könnte es leichter haben. Im ersten Schritt müsste ich dafür aber akzeptieren, dass ich eben nicht alles haben kann. Das schmerzt.

Alles ist ein Kompromiss

Als mein Sohn noch kleiner war und ich sehr viel ­gearbeitet habe, war mir vieles egaler. Ich war so sehr im Überlebensmodus, dass ich gar nicht anders konnte, als die Zeit auf Kind und Arbeit zu splitten. Ein Zustand, den ich niemandem empfehlen würde. Aber die Wahrheit an einem Leben mit Kindern ist doch: Es ist immer ein einziger Kompromiss. Natürlich bleibe ich zu Hause, wenn mein Kind hohes Fieber hat und mich braucht. Aber was ist mit den Tagen, an denen das Kind nicht so richtig fit ist – aber irgendwie geht es schon? Es ist eine innere Zerrissenheit, die einen begleitet. Der Wunsch, allem gerecht werden zu wollen, der eben nicht einfach verschwindet. Zumindest nicht in dieser Lebensphase.

Eine Freundin von mir sagt: „Das eigentliche Problem ist, fast nie mit der Aufmerksamkeit bei einer Sache bleiben zu können.“ Sie hat drei Söhne. Alle unter sieben. Ich frage mich regelmäßig, wie sie auch nur einen einzigen Tag übersteht. Bei mir ist es im Vergleich zu früher etwas ruhiger geworden. Mein Sohn ist so groß, dass er sein Bett ausfüllt und ihm zwei Zähne fehlen. Er ist selbstständiger. Und vor allem weniger oft krank. Das hilft sehr. Wenn ich ihm abends aus dem Pokémon-Lexikon vorlese, dann kommt mir die Welt für kurze Zeit langsamer vor. Zumindest bis zum nächsten Morgen.


Quellen:

  • Bittmann, F. : Beyond the u-shape: Mapping the functional form between age and life satisfaction for 81 countries utilizing a cluster procedure. . Journal of Happiness Studies: An Interdisciplinary Forum on Subjective Well-Being.: 10.1007/... (Abgerufen am 30.09.2023)