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Bobo kommt meist plötzlich. Im Urlaub tauchte er auf, als ein Tagesausflug mit Papa Henning und Mama Laura geplant war. Große Lust hatte Ella von Anfang an nicht gehabt, vor allem wegen der Autofahrt. Sie steigerte sich in ihren Unwillen immer mehr hinein. Schrie, weinte, lief stampfend durch die Ferienwohnung, bis sie in sich zusammenfiel. „Totalen Meltdown“ nennt Laura Henke das. Sie sitzt im Garten der Familie in Ellerbek bei Hamburg und sagt: „In diesen Momenten wird ihr alles zu viel.“

Ella sagt dann, dass das Bobo war. Sie gibt damit dem Verhalten einen Namen, das Folge ihrer Epilepsie ist. Die Strategie hilft ihr, zu wissen, dass sie in Momenten der totalen Überreizbarkeit nichts dafür kann. „Sicher strengen diese Situationen an“, sagt Laura Henke. „Aber im Vergleich zu der Zeit, als ‚Bobo‘ noch für Krampfanfälle stand, ist das harmlos.“ Diese Zeit endete erst vor etwa acht Monaten. Die zehnjährige Ella hat seit gut drei Jahren Epilepsie und ist damit eins von hierzulande rund 65 000 Kindern und Jugendlichen, deren Gehirn zu epileptischen Anfällen neigt. 50 von 100 000 Kindern zwischen 0 und 14 Jahren erkranken jährlich. „Die Ursachen sind sehr unterschiedlich und zum Teil auch nicht bekannt“, sagt Dr. Sarah von Spiczak, ärztliche Leiterin des DRK-Norddeutschen Epilepsiezentrums für Kinder und Jugendliche in Schwentinental bei Kiel. „Es können genetische Faktoren sein oder strukturelle Veränderungen des Gehirns, seltener Stoffwechselerkrankungen.“

Sind Vernarbungen oder kleinere Fehlbildungen im Hirn die Ursache, kann Epilepsie immer öfter durch eine Operation geheilt werden. Sonst können Medikamente helfen, Anfälle zu unterdrücken. Gut zwei Drittel der Betroffenen sind im Erwachsenenalter anfallsfrei, 70 Prozent davon ohne Medikamente. Je nach Art der Epilepsie gibt es eine Auswahl. „Manchmal benötigen wir mehrere Versuche, um das Richtige zu finden.“ Pro Jahr ­behandelt die Kinderärztin an die 600 Kinder. Bei schwierigen Therapieverläufen oder wenn die Familie Probleme im Umgang mit der Erkrankung hat, ist das Epilepsiezentrum eine wichtige Anlaufstelle.

Laura Henke erinnert sich noch gut an Ellas ersten Anfall. „Sie stieg frühmorgens zu uns ins Bett und war ungewöhnlich hibbelig“, erzählt Laura Henke. Ein paar Minuten nachdem Ella eingeschlafen war, zuckte und krampfte sie. „Als wir das Licht anmachten, sahen wir, dass sie nicht atmete und ihre Lippen blau waren“, sagt Laura Henke. „Ich nahm sie hoch, beatmete sie – zwei Dinge, die bei epileptischen Anfällen tabu sind, doch das wusste ich ja nicht.“ Der Notarzt sprach von einem wahrscheinlichen Krampfanfall. Das Wort Epilepsie nannte er nicht. Das hat seinen Grund: Ein ­epileptischer Anfall macht noch keine Epilepsie. Für die Diagnose müssen mindestens zwei Anfälle im ­Abstand von mehr als 24 Stunden auftreten. Eine Ausnahme gibt es, wenn die gemessene Hirnaktivität sehr charakteristisch und hoch ist.

Ella bekam die Diagnose prompt: Rolando-Epilepsie, eine häufige kindliche Form. Sie gilt als eher harmlos und wenig therapiebedürftig, auch weil sie eng mit dem Schlaf verknüpft ist. Das Verletzungsrisiko ist kleiner als bei Epilepsien, die tagsüber Anfälle hervorrufen. „So sah das auch der Arzt, der meinte, dass wohl noch ein, zwei Anfälle kommen könnten, bevor die Epilepsie sich bis zum Jugendalter verwächst. Medikamente seien nicht nötig“, erzählt Laura Henke. Die Eltern verlegten Ellas Schlafplatz in ihr Zimmer – und erlebten permanent Anfälle. „Es war schlimm. Nicht nur für uns, auch für Ella“, sagt Laura Henke. „Sie wollte nicht mehr schlafen, obwohl schlechter oder nicht ausreichender Schlaf ihre Epilepsie triggert.“

Ellas Anfälle kamen bald jede zweite Nacht, wurden heftiger und länger. „Das war auch noch so, als wir bereits drei Medikamente getestet hatten“, sagt ihre Mutter. Die Familie wechselte ins Epilepsiezentrum von Sarah von Spiczak. Heute ist Ella mit dem fünften Mittel anfallsfrei. Ihre Geschichte zeige, so Sarah von Spiczak, wie unterschiedlich Epilepsien verlaufen können. Manchmal brauche es Zeit und Fingerspitzengefühl, um etwa das richtige Medikament zu finden. Seit Kurzem schläft Ella wieder in ihrem Zimmer – mit einer Sensormatte unter der Matratze, die bei Anfällen Alarm schlägt. Auch ihre Ernährung hat Ella umgestellt, ernährt sich zeitweise ketogen, also mit wenig Kohlenhydraten. Sie spielt Tennis und Handball – eine Epilepsie bedeutet nicht, dass die Betroffenen auf Sport verzichten müssen. Was möglich sei und was nicht, werde immer individuell abgewogen, so von Spiczak.

Beim Sport hat Ella Erfolge, die ihr helfen, mit Problemen in der Schule umzugehen. „Ihre Konzentrations- und Merkfähigkeit ist eingeschränkt, weshalb ihr etwa Diktate schwerfallen“, sagt ihre Mutter. Ein Grund kann die hohe nächtliche Hirnaktivität sein, die sie womöglich nicht richtig regenerieren lässt. Auch die dämpfend wirkenden Medikamente können das Lernen erschweren. Langsam verarbeitet Ella die Geschehnisse der vergangenen Jahre. Ihre Mutter hofft, den schwersten Punkt überschritten zu haben – und dass Bobo bald ganz aus dem Leben der Familie verschwindet.


Quellen:

  • Leitlinie der Deutschen Gesellschaften für Epileptologie, Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendmedizin: S1-Leitlinie Diagnostische Prinzipien bei Epilepsien des Kindesalters. Leitlinie: 2017. Online: https://register.awmf.org/... (Abgerufen am 28.08.2023)

  • Neubauer BA und Bast T: Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen. Springer Medizin (online): springermedizin.de/... (Abgerufen am 28.08.2023)
  • Freitag CM, May TW, Pfäfflin M et al.: Incidence of Epilepsies and Epileptic Syndromes in Children and Adolescents: A Population-Based Prospective Study in Germany. In: Epilepsia: 01.01.2001, https://doi.org/...