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Es war 1995, als Janine Gerken, damals in der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester, ihre erste Jugendliche mit Diabetes Typ 1 betreute. „Das Mädchen spielte leidenschaftlich gern Handball“, erinnert sich Gerken, „und der Chefarzt sagte: Damit musst du aufhören, das geht mit Diabetes nicht.“ Wie hat das Mädchen geweint. Auch als die Oma mit selbst gemachtem Kartoffelsalat zu Besuch kam. „Sie durfte diesen nicht essen, weil wir ihn nicht berechnen konnten“, so Gerken, die heute als Diabetesberaterin im Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg tätig ist. „Mittlerweile können wir alle Lebensmittel berechnen und haben eine fortgeschrittene Pumpentechnik zur Verfügung, die vieles vereinfacht. Gemeint sind AID-Systeme (AID steht für „automatisierte Insulindosierung“), bei denen Pumpen mit Glukosesensoren zusammenarbeiten: Fallen die Zuckerwerte stark ab, stoppen die Systeme die Insulinzufuhr. Steigen die Werte, erhöht sich die Insulindosis automatisch. Die Dauer im Zielbereich verlängert sich somit, die Blutzuckerwerte sind oft langfristig besser. Die Hoffnung: das Risiko für Folgeerkrankungen zu minimieren.

Begleitung ist wichtig

Alles alleine macht das Pumpensystem aber nicht. Kohlenhydrate, die das Kind isst, müssen berechnet und in das Gerät eingegeben werden. Kleine Kinder mit Typ 1 können und sollen die Pumpen allerdings nicht bedienen. Tastensperren und die Einstellung einer maximalen Insulindosis sorgen hier für Sicherheit. „Dennoch müssen die Kinder lernen: Finger weg!“, sagt Dr. Angela Galler, Leiterin der Pädiatrischen Diabetologie an der Berliner Charité. Aber wer soll die Technik etwa im Kindergarten bedienen? Erzieherinnen und Betreuer haben oft nicht die Zeit oder Angst vor der Verantwortung. Für betroffene Familien bedeutet das enormen Aufwand, sofern kein Pflegedienst diese Aufgabe übernimmt. In der Grundschule sei eine Schulbegleitung sinnvoll, so Diabetesberaterin Gerken: „Eine Person muss die Mahlzeiteneingabe und Berechnung gemeinsam mit dem Kind durchführen.“ Nachteil: Bei Diabetes wird eine Schulbegleitung nicht generell genehmigt.

Andere Aufgaben, nicht weniger

So viel sich durch die neuen Systeme auch verändert hat, „Es bedeutet nicht, dass man sich nicht mehr um den Diabetes kümmern muss“, sagt Galler. Die Aufgaben rund um die Erkrankung haben sich verlagert: viele Male am Tag auf den Gewebezuckerwert schauen, Kohlenhydrate fürs Essen berechnen, diese in die Pumpe eingeben und bei sehr hohen Werten aktiv einschreiten.

Mit der Pen-Therapie ließen sich ebenso gute Werte erzielen wie mit einem AID-System, aber es sei schwieriger, so Galler: „Das System hilft, die Spitzen abzufangen.“ Immer mehr Familien setzen daher auf die Technik. Laut Digitalisierungs- und Technologie-Report Diabetes 2024 sehen 89 Prozent die Digitalisierung in diesem Bereich positiv. Denn auch wenn die moderne Pumpentechnik viel Aufmerksamkeit und Einarbeitung benötigt — für Kinder und ihre Familien ist sie ein Segen.

Linda Narweleit, 34, aus Freital mit Oskar, 5. Er bekam im Herbst 2022 Typ-1-Diabetes

„Die Diabetes-Technik kann vieles, aber nicht alles“

Oskars Papa und ich ­wussten, dass unser Sohn ein hohes genetisches Risiko hat, an Typ-1-Diabetes zu ­erkranken, da wir an zwei Studien teilgenommen haben. Trotzdem haben wir uns vorher nicht mit der Technik beschäftigt und waren ziemlich überfordert mit den verschiedenen Insulinpumpen und allem, was dazugehört. Eine ganz liebe Krankenschwester hat uns alles erklärt. Wir haben uns dann für ein Modell entschieden, bei dem die Pumpe über eine App die Glukosedaten vom Sensor bekommt und so selbst die Insulindosierung anpassen kann. Mit Pen haben wir nie spritzen müssen. Theoretisch weiß ich aber, wie es geht, weil wir dazu auch geschult worden sind. Man sollte das auch können, falls die Pumpe aussteigt. Das haben wir im Urlaub erlebt. Da gab es plötzlich eine Fehlermeldung, mit der wir nichts anfangen konnten. Über den telefonischen Kundendienst lässt sich Gott sei Dank vieles regeln. Da Oskar in die Kita geht, brauchten wir eine Lösung, wer die Pumpe beim Essen bedient. Das Insulin für die Kohlenhydrate muss man nämlich selbst abgeben. Die ersten Monate haben wir Eltern überbrückt, bis wir einen Pflegedienst hatten, der die Mahlzeiten überwacht. Wir sind sehr dankbar für die technischen Möglichkeiten heute, auch dass wir Oskars Blutzuckerwerte selbst auf dem Handy sehen, so können wir im Notfall aus der Ferne einschreiten.

Vivienne Gerk (9) hat seit drei Jahren Typ-1-Diabetes. Sie nutzt ein Closed-Loop-System mit Pumpe und Sensor und für Blutzuckerspitzen einen Pen. Ihre Werte bekommt sie aufs Smartphone und die Smartwatch.

„Ich mache ganz viel allein.“

Beim Mittagessen in der ­Schule wiege ich das Essen, in dem Kohlenhydrate stecken, berechne sie und gebe die Zahl in die Pumpe ein. Wenn ich unsicher bin, kann ich eine Betreuerin fragen, die selbst Typ-1-Diabetes hat. Meine Mama sieht meine Blutzuckerwerte auf ihrem Handy und mit meiner Smartwatch können wir uns gut erreichen. Sie sagt mir, wenn etwas nicht gut läuft. Aber meistens merke ich es selbst. Einmal habe ich viel getobt und dann später mein Essen nicht aufgegessen. Ich musste schnell Saft trinken, weil mein Blutzucker ganz weit unten war. Manchmal muss ich warten, bis ich anfangen darf zu essen. Das ist blöd! Aber ich will ja, dass meine Werte gut sind. In vielen Monaten bin ich über 90 Prozent im Zielbereich. Ich habe schon ein Smartphone. Viele Kinder beneiden mich darum. Aber mich nervt es. Dauernd muss ich erklären, warum ich es habe. Ich mache kein Geheimnis aus meinem Diabetes. Aber ich will, dass die anderen verstehen: Ich bin ein ganz normales Kind.

Mama Antje, 39:

Wir sind froh über die technischen Hilfsmittel. Natürlich haben wir Schulungen gebraucht, bis wir alles so gut im Griff hatten. Bislang hatten wir immer Erzieher und Lehrerinnen, die aufgeschlossen waren. Ich habe sie begleitet und ihnen alles erklärt. Mein Mann hat eine App entwickelt, die die Kohlenhydrate und den Spritz-Ess-Abstand ausrechnet. Damit kommt das Personal in der Mittagsbetreuung gut zurecht. Klar geht auch mal was schief. Aber ich bin immer erreichbar und habe die Werte über die Follower-App im Blick. Mein Motto: Wenn das Handy nicht piepst, ist alles in Ordnung. Ich verlasse mich sehr auf die Technik, bisher fahren wir damit super.

Für Kinder und Eltern: Warum Schulungen essenziell sind

Bekommt ein Kind Typ-1-Diabetes, lernt die Familie in einer Intensivschulung, was die Erkrankung für das weitere Leben bedeutet und welche Pumpen und Sensoren es gibt. Viele Familien seien zu Beginn überfordert, sagt Diabetesberaterin Janine Gerken. Sie fragt Eltern und Kind dann: Was wünschen sie sich für die Therapie? Was soll das System können? Manche Pumpen arbeiten mit automatischen Microboli, andere puffern viel über die Basalrate ab und wieder andere haben Sondermodi wie „Schla­fenszeit“. Damit die Systeme optimal laufen, muss man sie mit vielen Infos füttern, wie Korrekturfaktoren, Kohlenhydrat-Insulin-Verhältnis und Basalrate. Eltern sollten so geschult sein, dass sie zu Hause Anpassungen vornehmen ­können, so Ärztin Angela Galler. Auffrisch­lehrgänge, Diabetes-Freizeiten oder eine Reha sind hilfreich, um dran zu bleiben.

Keine Panik! Wenn die Technik streikt

„Bitte ruhig bleiben, wenn der Glukosesensor ab- oder ausfällt und keine Werte an Pumpe und Handy sendet“, vermittelt Gerken den Kindern. „Dein Körper funktioniert, höre auf deine Wahrnehmung.“ Zudem kann man den Blutzucker am Finger messen. Die Ausrüstung dafür gehört in die Notfalltasche des Kindes. Sollten Schule oder Kita anrufen, weil der Pumpenkatheter herausgerutscht ist, „müssen Eltern nicht kopflos losrennen. Sie haben zwei Stunden Zeit, um ihn neu zu setzen“, so die Expertin. Falls die Technik mal ganz ausfällt, sollten Eltern wissen, wie man Insulin mit dem Pen spritzt. Pumpen-Ersatz liefern die Anbieter je nach Stützpunkt innerhalb kurzer Zeit. In der Regel sind sie 24/7 über Notfallnummern erreichbar.

Pumpe, Sensor und Co: Was zahlt die Kasse?

Im Gegensatz zu anderen Ländern erhalten Kinder mit Typ 1 in Deutschland ein Rundum-sorglos-Paket: Grundsätzlich übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Hilfs-

mittel für Diabetes bei Kindern. Bei den unter 6-Jährigen ist die Pumpentherapie zusammen mit Glukosesensor weitestgehend Standard und wird von den Kassen getragen. „Bei den Älteren muss es dagegen eine zusätzliche medizinische Begründung geben“, sagt Galler. Diese sei aber oft gegeben. Etwa wenn die Blutzuckerwerte stark schwanken. Gut zu wissen: Für Reisen können Eltern eine Ersatzpumpe beantragen. Diese muss man nach dem Urlaub wieder abgeben. Die Kassen tragen ebenso die Kosten für eine „Back-up-Ausstattung“. Heißt: Langzeitinsulin, Pen und Messgerät plus Streifen fürs blutige Messen.

Interview mit Julia Uber

Sie ist Diplom-Psychologin und arbeitet in der Diabetes­ambulanz des Universitätsklinikums Tübingen

„Kinder wollen, dass die Eltern ihnen vertrauen“

Kinder mit Diabetes sind oft mit viel Technik ausgestattet. Was davon können sie selbst bedienen?

Das ist abhängig vom Alter des Kindes und sehr individuell. Es ist wichtig, auf die Signale des Kindes zu achten. Hat es den Wunsch, selbst Verantwortung zu übernehmen? Kleinere Kinder ­können zum Beispiel helfen, die Hautstelle zu desinfizieren, bevor der Sensor gelegt wird. Im Grundschulalter kann man das Kind ins Lesen der Blutzuckerwerte einbeziehen oder beim Abwiegen der Essensmengen. So kann es behutsam reinwachsen. Für das Bedienen einer Pumpe ist ein Zahlenraumverständnis bis 1000 notwendig. Mit der weiterführenden Schule können viele Kinder Schritt für Schritt ihre Pumpe selbst bedienen.

Trauen manche Eltern ihren Kindern zu wenig zu?

Das kann man nicht ­verallgemeinern. Aber ich beobachte manchmal, dass Eltern Ängste haben, den Kindern mehr Verantwortung zu geben. Sie sehen das ganze Leben ihrer Kinder und wollen sie vor Folge­erkrankungen schützen. Das ist verständlich. Kinder wollen aber auch erleben, dass Eltern ihnen Vertrauen entgegenbringen.

Und wenn mal was schiefgeht mit den Werten?

Es ist nicht gut, dann Angst zu machen, nach dem Motto: Wenn du nicht aufpasst, dann wirst du später Probleme bekommen. Das fühlt sich bedrohlich an und kann zu einem Gefühl von ­Kontrollverlust führen.

Die Technik kann zu ­einer Sonderrolle führen. ­Belastet das?

Das ist unterschiedlich. Manche Kinder gehen ganz selbstverständlich mit den technischen Hilfsmitteln um und erleben, dass sie voll akzeptiert werden. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit bei Kindern und Jugendlichen ist groß. Oft höre ich auch den Wunsch, möglichst nicht aufzufallen.

Aber ist das gut?

Ich erlebe manchmal, dass Jugendliche den Diabetes verstecken wollen. Darunter leidet die Blutzuckereinstellung. Ziel ist es, die Kinder so stark zu machen in ihrem Selbstwertgefühl, dass sie sich trauen, sich mit all ihren Eigenschaften und ihrem Diabetes zu zeigen.

Eine Diabeteserkrankung erfordert viel Management. Macht das Kinder schneller selbstständig?

Tendenziell ja. Das Management erfordert eine hohe Strukturierung des Alltags, höhere Frustrationstoleranz und vorausschauendes Denken. Kinder mit Diabetes trainieren all das. Welche Rolle dabei die Technik spielt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es egal, ob Insulinpumpe oder Pen.

Das Wichtigste in Kürze

Die Pumpensysteme für die Diabetes-Therapie von Kindern haben sich in den vergangenen Jahren rasant weiterentwickelt. Kontinuier­liche Glukosemessung und intelligente Pumpen ­erleichtern den ­Alltag. In Schulungen lernen die Familien, die Technik zu bedienen.

Dennoch bleibt Diabetes bei Kindern ein
24/7-Job — für die ganze Familie.


Quellen:

  • Prof. Dr. Bernhard Kulzer, Prof. Dr. Lutz Heinemann : Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2024, Menschen mit Diabetes Deutschland. MedTriX GmbH, online: https://www.dut-report.de/... (Abgerufen am 20.02.2024)
  • Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und Arbeitsgemeinschaft für Pädriatrische Diabetologie (AGPD), et al.: Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter, S3-Leitlinie. Leitlinie: 2023. AWMF online: https://register.awmf.org/... (Abgerufen am 20.02.2024)

  • J. Ware, J.M. Allen, C.K. Boughton, M.E. Wilinska, S. Hartnell, et al. : Randomized Trial of Closed-Loop Control in Very Young Children with Type 1 Diabetes. In: The New England Journal of Medicine, online: 10.01.2022, https://doi.org/...
  • Dr. Thomas Meißner: Kinder mit Typ-1-Diabetes sind die Innovationstreiber. Ärztezeitung : https://www.aerztezeitung.de/... (Abgerufen am 20.02.2024)
  • Prof. Dr. Thomas Danne: Diabetes-Technik – Helfer in Schule und Kita?. Diabetes Journal, online: https://www.diabetes-online.de/... (Abgerufen am 20.02.2024)