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Ich war mal wieder unpünktlich. Es müssen mindestens zwanzig Minuten gewesen sein, vielleicht war es auch eher eine halbe Stunde später als verabredet, als ich ins Café stolperte, wo ich Maja entspannt auf der Couch sitzen sah. Sie nippte an einem dampfenden Tee, blickte mich an, fragte: „Alles okay bei dir? Du wirkst so fahrig.“

Ich hielt Maja das Smartphone mit meiner Blutzuckerkurve vors Gesicht. Roter Bereich. Pfeil nach unten. „So geht das schon den ganzen Tag“, sagte ich. „Vor lauter Stress habe ich vergessen zu essen“, erklärte ich mit reichlich Weinerlichkeit in der Stimme. Ich erhoffte mir Mitleid. Maja hat fast genauso lang Typ-1-Diabetes wie ich. Sie weiß, was es heißt, unterzuckert zu sein, kennt das Zittern, die plötzliche Blässe, das akute Hungergefühl und die Kopfschmerzen, die manchmal erst Stunden nach der Hypoglykämie auftreten. Ihr ist bewusst, wie verwirrt, desorientiert oder gereizt wir Diabetiker werden können. Wie schwierig es ist, sich zu konzentrieren, klare Gedanken zu fassen. Dass wir manche Unterzuckerung nicht als solche ausmachen, weil wir keine Warnzeichen spüren.

„Stell dich nicht so an“, sagte sie mit gespielter Empörung und bestellte mir eine Cola. So eine „kleine Unterzuckerung“ habe sie fast jeden Tag. Geht mir ähnlich, was mir regelmäßig mahnende Blicke meiner Diabetologin beschert. Maja fuhr fort: „Das Gute an einer Hypo ist, dass sie mir die perfekte Begründung liefert, um nicht arbeiten zu gehen.“

Ich richtete mich auf. Mein inneres Betrugsdezernat begann sofort, Ermittlungen aufzunehmen. Meine innere Richterin urteilte die Haltung meiner Bekannten gleichzeitig ab. Wie dreist ist das denn? Maja hatte indes eine Erklärung parat. „Wenn ich die Nacht über im roten Bereich bin und völlig unterzuckert aufwache, dröhnt tagsüber mein Kopf. Wie soll ich da eine Horde Zweitklässler bändigen?“, meinte sie, die als Grundschullehrerin arbeitet. Öffentlicher Dienst. Da geht das wohl, dachte ich, während ich mit Cola meinen Blutzucker stabilisierte.

Bei den ein, zwei Malen, bei denen ich es wagte, in der Redaktion eine nächtliche Unterzuckerung als Grund für eine sogenannte Arbeitsunfähigkeit anzuführen, spürte ich die Skepsis meiner Kollegen durchs Telefon. Trotz dröhnender Kopfschmerzen saß ich spätestens mittags wieder am Laptop. Ich hatte den Eindruck, dass Unterzuckerungen als Grund nicht taugen. Dass man mir nicht glaubt.

Nicht-Diabetiker können Hypos oft kaum nachvollziehen. Da sie noch nie die körperlichen und emotionalen Zustände einer Unterzuckerung durchgemacht haben, fehlt ihnen das Verständnis. Wie will ein Außenstehender Symptome wie Gereiztheit oder Schweiß auf der Stirn richtig deuten? Vielleicht habe ich einfach einen schlechten Tag und rede deshalb so viel Unsinn. Außerdem halten sich viele Missverständnisse über Diabetes. Viele kapieren nicht, dass ich die eine Hypo lachend mit Gummibären beantworte, die andere mich aber stundenlang ausknockt. Wie sollen sie auch? Sie haben diesen Zustand ja nie selbst erlebt.

Ein paar Tage nach der Diskussion mit Maja. Unterzuckert überhöre ich meinen Wecker, verschlafe und verpasse einen Zahnarzttermin. Als ich in der Praxis anrufe, ist die Ärztin am Apparat. Sie ist sauer, hört sich meine Begründung an und zischt: „Ach, Stephan, so eine blöde Ausrede. Die kannst du jemand anderem erzählen.“

Falls jemand eine gute Zahnarztpraxis kennt: Ich würde mich über einen Hinweis freuen.