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Es piepst. Stefanie Schröder schaut auf das Lesegerät ihres Sensors. Der Trendpfeil zeigt nach oben, die erste Ziffer des Glukosewertes ist eine 2. Mehr Informationen braucht sie nicht, um zu verstehen: „Wir müssen nachspritzen.“ Ihr Blutzuckerwert ist zu hoch. Übersteigt er 240 mg/dl (13,3 mmol/l), gibt die Technik Alarm. Stefanie Schröder lebt mit Trisomie 21, dem Downsyndrom, und hat seit zehn Jahren Typ-1-Diabetes. Die Krankheit ist kein großes Ding mehr für sie. Vorsichtig zieht sie den Ärmel ihres Pullis hoch und zeigt stolz den Sensor am Oberarm, der beständig den Zucker misst. „Das hilft mir sehr“, sagt sie. Für ihre Gesundheit will sie selbst Verantwortung übernehmen — und das klappt mit etwas Hilfe gut.

Hilfe in der Wohngruppe

Dabei war die Diagnose Diabetes zunächst ein Schock, erinnert sich ihre Mutter Maria Urban: „Am Anfang wussten wir nicht, wie und ob wir das gut hinbekommen.“ Stefanie Schröder lebt in München in einer Regens-Wagner-Wohngruppe für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Sie ist dort die einzige Bewohnerin mit Diabetes. Stefanie Schröder nimmt aus ihrer Bauchtasche die Insulinpens und läuft ins Büro von Wohngruppenleiterin Kathrin Brüning. Beim Spritzen braucht sie Hilfe.

Epilepsie macht’s kompliziert

Bei Menschen mit Downsyndrom tritt Diabetes überdurchschnittlich häufig auf – ebenso wie Adipositas. Das zeigen Studien. Früherkennung ist deshalb besonders wichtig. Bei Stefanie Schröder fielen die erhöhten Zuckerwerte bei einer Routineuntersuchung auf. Zunächst schwankten die Werte stark. Einmal landete Schröder mit einem gefährlich hohen Blutzuckerspiegel im Krankenhaus. Einfach mit einer hohen Dosis Insulin gegensteuern, das ging nicht. Denn die 45-Jährige leidet an Epilepsie und eine Unterzuckerung könnte einen Anfall auslösen. „Bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen liegen häufig mehrere Diagnosen vor. Auch das macht das Management des Diabetes schwieriger“, erklärt Brüning.

Diabetologinnen oder Diabetologen, die sich auf die Betreuung von Menschen mit Behinderung spezialisiert haben, gibt es in Deutschland kaum. Dabei brauchen diese in einem höheren Maß Unterstützung, um ihren Diabetes gut zu managen. Zu diesem Ergebnis kommt eine britische Studie aus dem Jahr 2022. Das Fazit: Das ganze Umfeld – die Angehörigen und die Betreuenden – muss in die Behandlung einbezogen werden.

Als Stefanie Schröder neu bei ihr war, organisierte die Münchner Diabetologin Dr. Diana von Welser deshalb Schulungen. Ihre Diabetesberaterin besuchte mehrmals die Wohngruppe, zeigte die Technik, nahm sich Zeit. Betriebswirtschaftlich denken durfte die Diabetologin dabei nicht: „Das bekommen wir nicht extra bezahlt.“ Heute ist Stefanie gut eingestellt. Die wenigsten Patientinnen und Patienten von Diana von Welser sind kognitiv beeinträchtigt oder körperlich behindert. Genießt Stefanie Schröder einen Sonderstatus? „Nein, überhaupt nicht“, betont die Expertin.

Die Sprechstundentermine liefen ab wie bei allen anderen auch. „In der Diabetologie muss man immer schauen: Was braucht die Patientin oder der Patient? Was kann und will sie oder er? Das ist bei Menschen mit einer Behinderung nicht anders.“ Stefanie Schröder bringe aber etwas Wichtiges mit: Krankheitsakzeptanz. „Sie hat ihren Diabetes völlig integriert und lebt gut mit ihm“, so von Welser. Tatsächlich weiß Stefanie Schröder genau, was ihrem Blutzucker guttut und was nicht. Nudeln: gehen gar nicht. Sport: „Das macht mir richtig Spaß.“ Sie ist ausgebildete Turnlehrerin. Stefanie Schröder ist sehr diszipliniert, und das lohnt sich. Ihre Zuckerwerte sind meist im Zielbereich. Nur ganz selten bekommt sie eine Unterzuckerung. „Dann schwitze ich und fühle mich schwindlig“, sagt sie.

Hier Theorie, dort Praxis

Doch was, wenn der Diabetes noch keine spürbaren gesundheitlichen Probleme macht? „Vor allem bei Menschen mit geistiger Einschränkung und Typ-2-Diabetes ist es schwierig, ranzukommen. Sie fühlen sich ja nicht krank“, weiß Christa Rittner von der Lebenshilfe Schweinfurt. Sie hat einen Ratgeber in Einfacher Sprache verfasst (abrufbar unter a-u.de/!1027427).

Dass ihn sein Diabetes krank machen kann, weiß Sigi Stoiber. Zumindest theoretisch. Der 63-Jährige ist geistig leicht behindert und lebt in einer Wohngruppe in München. Seit sieben Jahren hat er Typ-2-Diabetes. Jeden Abend bekommt er Langzeit­insulin gespritzt. Lange genügte Metformin in Tablettenform. Aber sein Langzeitzuckerwert (HbA1c) wurde immer schlechter. Warum, das weiß er selbst: „Ich mag so gerne Spezi.“

Weil er sich nicht an Ernährungsvorgaben hielt, forderte Wohngruppenleiterin Antje Hiltscher von der Lebenshilfe beim Diabetologen ein Attest ein. Dieses entbindet das Betreuungspersonal von der Verantwortung, Stoibers Ernährung komplett zu kontrollieren. „Hier im Haus achten wir auf gesunde Ernährung“, sagt Hiltscher. Aber Sigi Stoiber dürfe in seiner Freizeit machen, was er wolle – auch wenn das seinem Diabetes schade.

Eine Extraportion Verständnis

Wie viel Eigenverantwortung soll und darf ein Mensch mit geistiger Einschränkung für seine Gesundheit übernehmen? Ein schwieriges Thema – auch rechtlich. Das erfahren Janina Kaufhold und Siobhan Molitor immer wieder. Sie sind Diabetesberaterinnen in einer Einrichtung in Lüdenscheid. Dort leben Jugendliche mit und ohne geistige Einschränkungen sowie Erwachsene mit geistiger Behinderung. Das Besondere: Alle haben Diabetes.

„Die Gemeinschaft macht es einfacher, die Krankheit zu akzeptieren“, sagt Molitor. Sie betont: Ob jemand seinen Diabetes schleifen lässt, habe nichts mit intellektuellen Fähigkeiten zu tun. „Die einen arbeiten gerne mit, anderen fällt das schwerer“, so Kaufhold. Wichtig sei, alles genau zu dokumentieren. So stellt sich rechtzeitig heraus, ob die Behandlung angepasst werden muss. Vielleicht helfen dann neue Medikamente oder technische Hilfsmittel. Doch auch wenn Insulinpumpen das Spritzen ersetzen und Closed-Loop-Systeme, die automatisch Insulin abgeben, das Diabetesmanagement erleichtern können: „Die Menschen müssen mit der Technik klarkommen“, sagt Molitor. Was sie ihre Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen gelehrt hat: „Es braucht oft ein bisschen mehr Zeit, Verständnis und Vertrauen.“

Stefanie Schröder weiß, an wen sie sich wenden kann, wenn sie bei ihrer Diabetestherapie mit etwas nicht zurechtkommt. So wie mit der App, die ihr die Werte des Glukosesensors auf ihrem Smartphone angezeigt hat. Die war nicht das Richtige für sie. Am liebsten berät sie aber mit Wohngruppenleiterin Kathrin Brüning, was gekocht wird. Denn was schmeckt und gesund ist, darin ist Stefanie Schröder längst Expertin. „Dank Steffi sind wir die fitteste und gesündeste Wohngruppe weit und breit“, sagt Brüning und lacht.


Quellen:

  • Aisha A. Aslam , R. Asaad Baksh , Sarah E Pape et al.: Diabetes and Obesity in Down Syndrome Across the Lifespan: A Retrospective Cohort Study Using U.K. Electronic Health Records . In: Diabetes Care: 30.09.2022, https://doi.org/...
  • Prof. Dr. med. Karsten Müssig : Menschen mit Down-Syndrom: Wie steht es um das Diabetesrisiko?, Gefährdungspotenzial für Typ-1- und Typ-2-Diabetes. Info Diabetologie: https://www.springermedizin.de/... (Abgerufen am 20.11.2023)
  • Lauren T. Ptomey, Nicolas M. Oreskovic, James A. Hendrix, et al.: Weight management recommendations for youth with Down syndrome: Expert recommendations. Frontiers in Pediatrics: https://doi.org/... (Abgerufen am 20.11.2023)
  • Janet S Basil , Stephanie L Santoro , Lisa J Martin, et al.: Retrospective Study of Obesity in Children with Down Syndrome . In: J Pediatr.: 01.06.2016, https://doi.org/...