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Am Anfang ein Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie wandern durch eine Landschaft, die Sie nur vage kennen, aber Ihre Gefährtin kennt sich besser aus. An jeder Weggabelung erklärt Ihre Begleiterin kurz, was links und rechts auf Sie wartet. Und dann bestimmt sie, welchen Weg Sie gehen. Sie müssen ihr folgen. Sie vertrauen ihr, aber Sie fühlen sich auch unbeteiligt: Dies ist nicht Ihr Weg. Wären Sie nicht viel engagierter, wenn Ihre ortskundige Gefährtin Ihnen sagt, was sie weiß — und Sie dann gemeinsam mit ihr entscheiden, welchen Weg Sie einschlagen?

In der Diabetes-Behandlung sind Ärztin oder Arzt Ihre Wegbegleitung. Die Fachleute kennen sich mit der Therapie aus. Und wenn sie den Weg vorgeben, dann ist das weder arrogant noch bevormundend gemeint. Schließlich wissen sie am besten, wie die Krankheit unter Kontrolle gehalten werden kann und wie sich Langzeitschäden vermeiden lassen. Natürlich wollen sie ihren Patienten und Patientinnen die beste Behandlung zukommen lassen.

Doch Fortschritt in der Medizin, das bedeutet nicht nur medizinisch-technologische Neuerungen wie implantier-
bare Glukosesensoren oder neue Wirk-
stoffe für innovative Medikamente — sondern es bedeuet auch mehr Mitsprache der Betroffenen.

Diabetes bestimmt den Alltag mit

In der neuen Nationalen Versorgungsleitlinie zu Typ-2-Diabetes (Leitlinien formulieren die aktuell bestmögliche Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen) wurde daher ein neues Kapitel zur sogenannten partizipativen Entscheidungsfindung aufgenommen. Damit ist gemeint: Ärzte und ­Patienten legen gemeinsam die Therapie fest. Denn gerade bei Diabetes wirken sich Art und Umfang der Behandlung teilweise sehr auf den Alltag aus. „Das neue Kapitel ist ein wichtiger und folgerichtiger Schritt hin zu einer besseren Diabetes-Behand­lung“, sagt der Psychologe Professor Bernhard Kulzer von der Diabetes-Klinik in Bad Mergentheim.

Der Weg zur Entscheidung

In der Praxis sieht das so aus: Der Arzt oder die Ärztin erläutert mögliche Therapien mit ihren Vor- und Nachteilen. Danach bespricht man gemeinsam, welche Variante am sinnvollsten erscheint. Die ­Entscheidung muss nicht zwingend zugunsten derjenigen Methode ausfallen, die den Blutzucker am längsten im Zielbereich hält. Ein Beispiel: Wenn die bisherige Therapie mit ­Diabetes-Medikamenten erfolglos blieb und es mit der gesünderen Ernährung und mehr Bewegung im Alltag nicht klappt, ließe sich der Blutzucker am zügigsten mit Insulin senken. In vielen Fällen ist das der richtige Weg — aber eben nicht immer.

„Letztes Jahr kam ein Mann mit Typ-2-Diabetes, der kurz vor einer Insulintherapie stand. Ich habe ihm die Möglichkeit eröffnet, dass er noch mal konkreter an Bewegung und Ernährung arbeiten könnte. Er sagte, er wolle das unbedingt machen. Letzte Woche war er hier: Die Blutzuckerwerte waren prima, er braucht zurzeit noch kein Insulin“, berichtet Dr. Jens Kröger, Facharzt für Innere Medizin und Diabetologie in Hamburg und Vorstandsvorsitzender von
diabetesDE — Deutsche Diabetes-­Hilfe e. V. Bernhard Kulzer nennt ein weiteres Beispiel: „Lebt ein Patient alleine, dann kann eine Unterzuckerung für ihn womöglich lebensbedrohlich sein. Das muss man in die Behandlung miteinbeziehen.“

Mediziner brauchen Einblicke in das Leben ihres Gegenübers. Umgekehrt müssen Patientinnen und Patienten verstehen, welche Therapie­optionen es für sie gibt — mit Vor- und Nachteilen. „Ziel ist es, dass die Menschen mit ­Diabetes und ich jeweils eine Art Team werden“, sagt Jens Kröger. Die Zeit, die das brauche, sollten die Ärzte künftig verstärkt honoriert bekommen. Er wünscht sich außerdem, dass neue, digitale Technologien häufiger erstattet werden. Denn Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, können als Grundlage für eine bessere ­Therapieentscheidung dienen.