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Da! Eine Schnecke! Ein Glitzerstein und eine Großbaustelle. Wer mit Kindern unterwegs ist, erlebt die Welt mit anderen Augen. „Kinder brauchen das Trödeln für ihre Entwicklung“, erklärt Professorin Fabienne Becker-Stoll. Die Bindungsforscherin leitet das Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Immerhin müssen sie ihre Umgebung noch kennenlernen. „Zudem ist ihr Gehirn noch nicht so weit entwickelt, dass sie verstehen, was Zeit bedeutet oder Handlungen wie das Zuspätkommen beim Kinderarzt abschätzen können“, ergänzt die Bonner Familienbegleiterin Inke Hummel. Doch manchmal muss es schnell gehen. Wie Kinder aus den Puschen kommen:

Morgendlicher ­Aufbruch

Den Morgen so schön wie möglich gestalten.

Inke Hummel: „Manche Kinder brauchen Spielraum, das steigert ihre Kooperationsbereitschaft. Diese ­Kinder dürfen entscheiden, ob sie beispielsweise zuerst Zähne putzen oder sich zunächst anziehen. Anderen hilft die immer gleiche Morgenroutine. Mein Tipp: Machen Sie diese sichtbar, etwa durch eine ­Anziehstraße – die Kleidung kann am Vorabend gemeinsam ausgesucht werden – oder eine Sanduhr.“

Fabienne Becker-Stoll: „Es hilft, wenn Eltern 20 Minuten früher aufstehen und den eigenen Kram schon fertig haben. Und dann das Kind liebevoll unterstützen. Das Anziehen dauert? Dann helfen Sie Ihrem Kind in die Kleidung. Singen Sie beim Zähneputzen oder planen Sie noch Zeit zum Vorlesen ein.“

Unterwegs zu einem Termin

Ein Puffer nimmt Druck aus der Situation.

Inke Hummel: „Muss ich pünktlich irgendwo sein? Oder darf auch der Weg das Ziel sein? Bei Letzterem wünsche ich Eltern, dass sie sich auf das Trödeln einlassen. Gemeinsam mit ihrem Kind sind sie dann beinahe schon meditativ nur im Hier und Jetzt. Gibt es aber einen Termin, tragen Mama oder Papa die Verantwortung für Strecke und Zeit. Sie müssen vorab überlegen: ‚Kann mein Kind diesen Weg in der von mir eingeplanten Zeit bewältigen?‘ Ich rate immer zu einem Trödel- und Entdeckungspuffer. Klar können sich Kinder oft genug trotzdem nicht lösen. Mein Tipp: Lassen Sie das Kind etwas aus der Situation mitnehmen, eine Pusteblume etwa lässt sich auch prima unterwegs pusten. Bei unseren Kindern war übrigens der Puppenbuggy der Geheimjoker.“

Fabienne Becker-Stoll: „Als unsere Kinder noch klein waren, hatte ich eigentlich immer einen Ablenker dabei, meist ein Buch, das dann zum Beispiel das Sitzen im Buggy – anstatt selbst zu gehen oder einfach nur zu stehen – tatsächlich attraktiv machte. Auch gut: ein Versprechen geben. ,Nach dem Termin bei der Logopädin gucken wir den Baggern zu.‘ Das Versprechen muss aber gehalten werden. Mit der Zeit lernen Kinder so auch, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können.“

Auf dem Spielplatz

Jetzt ist Mitgefühl wichtig

Inke Hummel: „Es ist an den Eltern, ihr Kind mitfühlen zu lassen: Warum müssen wir jetzt los? Was bedeutet es, wenn wir jetzt nicht gehen? Vielleicht steht dann
die große Schwester vor verschlossener Tür. Diese Erklärungen verstehen Kinder ab dem Vorschulalter, doch bereits Einjährige sind sozial, fühlen mit und haben ein Anrecht auf Erklärungen. Wenn ein Kind sich nicht lösen kann, hilft es, Lust auf das zu machen, was kommt: Beim Bäcker gibt’s eine Brezel, zu Hause spielen wir noch mit der Eisenbahn …“

Fabienne Becker-Stoll: „Wenn du jetzt nicht kommst, dann gehe ich – niemals ohne dich! Ich rate dazu, den Aufbruch gemeinsam zu gestalten. Also bitte keine Befehle vom Rand geben, sondern zum Kind gehen und bei ihm bleiben. Übergänge klappen gemeinsam so viel besser! Das Kind darf nun bestimmen, was es noch machen möchte. Und dann schubst Mama oder Papa dolle die Schaukel an oder dreht noch dreimal das Karussell.“

Beim Essen

Für Erwachsenengespräche ist auch nach dem Essen noch Zeit.

Inke Hummel: „Beim Abendessen haben viele Eltern zu viele Ziele. Sie wollen, dass alle gemeinsam gemütlich am Tisch sitzen, das Kind sich gesund ernährt, Mama und Papa Orga-Kram besprechen und das Kind von seinem Tag erzählt. Ich rate: Überlegen Sie, was für Sie das Wichtigste ist, und passen Sie das Abendessen daran an. Zudem hilft ein Blick auf das momentane Bedürfnis des Kindes. Ist es müde? Dann darf es vielleicht auf den Schoß und kuschelnd essen. Nach einem langen Tag sollten Eltern Erwachsenengespräche und Organisatorisches auf später verschieben und auf ihr Kind eingehen.“

Fabienne Becker-Stoll: „Spielt ein Kind nur noch mit dem Essen und isst nichts mehr, ist es satt. Dann darf es auch aufstehen und spielen. Was ich immer wieder erlebe, ist aber, dass quasi zur falschen Zeit gegessen wird. Das Kind ist noch satt vom Nachmittagssnack, der Abendhunger kommt eine halbe Stunde später. Oder eine halbe Stunde früher. Andere Kinder brauchen nach dem Kitatag zunächst viel Nähe. Erst wenn sie emotional aufgetankt haben, können sie entspannt essen.“

Zimmer aufräumen

Kleine Kinder brauchen Unterstützung.

Inke Hummel: „Ich bin Fan des wirkungsvollen Aufforderns. Das meint unter anderem, dass es ­keine Ansage etwa aus der Küche gibt, sondern Mama oder Papa beim Kind bleiben, es an­schauen, deutlich sprechen und das Aufräumen helfend begleiten. Allein kann das ein kleines Kind nicht.“

Fabienne Becker-Stoll: „Kleine Kinder brauchen eine konkrete Anweisung, beispielsweise: ‚Räumst du bitte die Bauklötze in die rote Box?‘ Ein ‚Räum dein Zimmer auf!‘ verstehen sie nicht. Für die Grundordnung und -sauberkeit tragen aber die Eltern die Verantwortung. Mein Tipp: Einen Teil der Spielsachen für eine Weile aussortieren, das schafft mehr Raum. Und die Freude ist riesig, wenn das Piratenschiff erneut aus dem Keller geholt wird.“


Quellen:

  • Interview mit Professorin Fabienne Becker Stoll, Diplom-Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz.

  • Interview mit Inke Hummel, Pädagogin und Familienbegleiterin.