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„Dezember 2022: Mein Team – ein medizi­nischer Leiter, ein Arzt, eine Krankenschwester, eine Psychologin und ich, Hebamme und Krankenschwester – hatten bereits 164 Männer, Frauen und Kinder aus dem Meer geborgen. Am nächsten Tag stießen wir auf ein weiteres Boot. Auf dem saß Fatima, die in Wirklichkeit anders heißt, hochschwanger, mit 89 anderen, dicht an dicht. Neben ihr ihre drei Söhne – zwölf, acht und zwei Jahre alt. Dass Fatima Kontrak­tionen zu haben schien, berei­tete mir zunächst keine Sorgen: Die 26-Jährige hatte viel durchgemacht, war dehydriert und erschöpft, vermutlich waren es Übungswehen, wie bei vielen Schwangeren. Sie fühle sich okay, sagte sie, also kümmerten wir uns erst mal um die anderen Überlebenden.

Plötzlich kamen Blutungen

Es war ein typischer Wintertag mit rauem Mittelmeer-Wetter. Viele der Geretteten waren seekrank. Wir verteilten Tabletten gegen Übelkeit, trockene Kleidung, Essen, Wasser – und das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Wir verarzteten die Hautverätzungen, die die Flüchtenden bekommen, wenn sie stundenlang in einem Gemisch aus Salzwasser und Treibstoff sitzen. Als alle versorgt waren, rief Fatima uns zu sich: Sie ­hatte Blutungen. Ich nahm sie mit in mein Büro, in dem eine Untersuchungsliege steht.

Ich stellte fest, dass ihr Muttermund bereits vier Zentimeter geöffnet war. Also doch nicht unbedingt Übungswehen. Eine Kollegin übersetzte zwischen Fatima und mir ins Französische. Ich sagte: „Ich habe noch kein Baby auf ­einem Schiff entbunden, aber Hunderte auf der ganzen Welt. Du bist in guten Händen.“ Wir gaben Fatima Infusionen, die Wehen ließen nach. Nach ein paar Stunden, der Muttermund war unverändert, wollte Fatima zurück zu ihren Söhnen, die oben auf dem Schiff geblieben waren. Wir ließen sie aufs Frauendeck gehen, wo sie einige Stunden schlief. Auch ich legte mich in meiner Kabine kurz hin, bis mich morgens um vier meine Kollegin weckte: Fatima sei mit starken Wehen aufgewacht.

Zwischen Fatima und mir wird immer eine Verbindung bleiben.

Der Muttermund war sieben Zentimeter geöffnet. Ich war sicher, dass sie in zwei Stunden ihr Baby zur Welt bringen würde. Also legte ich in der Bordklinik, zwischen Medizin-Equipment und Sauerstoffflaschen, eine Matratze auf den Boden und bereitete alles für die Geburt vor. Doch die geriet ins Stocken. Die Wehen wurden schwächer, Fatima war zu erschöpft.

Wir setzten sie auf einen Yogaball, machten mit ihr Kniebeugen und immer wieder Posi­tionswechsel. In einem Krankenhaus hätte man ihr einfach ein Wehenmittel gegeben, doch auf unserem Schiff sind die Möglichkeiten begrenzt. Zum Glück ging es dann doch irgendwann ganz schnell: Um halb zwölf war ein kleiner, wundervoller Junge auf der Welt. Er schaute sich mit großen Augen um. Fatima konnte ihn sofort stillen. Sie war stolz und glücklich. Und ich auch.

Mit der Küstenwache an Land

Bei einem medizinischen Notfall beantragen wir eine Evakuierung. Wir baten die italienischen Behörden, Fatima und ihre Kinder aufzunehmen. Ein Schiff ist kein Ort für ein Neugeborenes. Doch die wollten Fatima und das Baby nach Malta bringen und ihre anderen drei ­Söhne nach Lampedusa. Wie erleichtert war ich, als „Ärzte ohne Grenzen“ das nicht akzeptierte!

Am Ende brachte die italienische Küstenwache alle fünf nach Lampedusa. Ich war beeindruckt von Fatima: Wenige Stunden nach der Entbindung kletterte sie hinunter auf unser Schnellboot und dann auf das Schiff der Küstenwache. Fatima kommt aus Guinea in Westafrika. ­Frauen wie sie flüchten vor Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Vergewaltigung oder Folter. Die Fluchtroute über das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten der Welt. Und trotzdem nehmen Menschen sie auf sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Es geht um Menschenrechte, die wir für selbstverständlich halten.

Ich weiß, dass ich – verglichen mit diesen Menschen – privilegiert bin und fühle mich verpflichtet zu helfen. Zwischen Fatima und mir wird immer eine Verbindung bestehen. Ich ­habe sie und ihre Söhne im Februar in Italien besucht. Als wir uns wiedersahen, weinten wir beide vor Freude.“

Vermisst im Meer

Täglich sterben Flüchtende auf gefährlichen Routen zwischen Europa und Afrika. Die Website missingmigrants dokumentiert ihre Zahl.