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Kriegspfad oder Friedenspfeife? Geschwister können beides“, stellte der Schriftsteller Kurt Tucholsky fest. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Denn es ist genau dieser – oft schnelle – Wechsel aus Streit und Versöhnung, der Kindern zeigt: Hier kann ich mich ausprobieren, meine Emotionen zeigen – ohne gleich die Bindung zu riskieren. Denn die Beziehung zur Schwester oder zum Bruder kann nicht aufgekündigt werden, Geschwister verbindet fürs ganze Leben ein unauflösbares Band. „Sie sind aufeinander angewiesen, können sich nicht einfach aus dem Weg gehen. Sie haben eine Koexistenz von Rivalität und Liebe“, sagt Dr. Inés Brock-Harder, die sich als Psycho­therapeutin für Kinder und Jugend­liche schwerpunktmäßig mit dem Thema Geschwisterschaft auseinandersetzt.

Gerade weil ihre Verbindung zu­einander so stark ist, streiten Geschwister untereinander was das Zeug hält. „Das wird von Erwachsenen oft negativ bewertet. Für Kinder geht es aber um das Durchsetzen ­ihrer Bedürfnisse. Wir kommen schließlich als Bedürfniswesen auf die Welt“, erklärt die Expertin aus Halle an der Saale. Sich dafür einzusetzen, dass die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden, sei ein Über­lebens­instinkt – und häufig mit Geschrei und körperlicher Auseinandersetzung verbunden.

Die Perspektive wechseln

Auch aggressive Energie sei erst einmal etwas ganz Natürliches. Ein Überlebenstool, auch im Sinne der Verteidigung. „Erst im Laufe unserer Kindheit lernen wir, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und von den ­eigenen zu unterscheiden“, sagt Inés Brock-Harder. Hinzu komme die ­Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln. Mit etwa dreieinhalb Jahren ­seien Kinder in der Lage, empathisch zu reagieren.

Dieses Wissen ist ein Trost für alle Eltern, deren Kinder sonntagmorgens um halb sechs die erste Auseinandersetzung vom Zaun brechen. Mütter und Väter fragen dann: „Könnt ihr euch nicht einfach mal vertragen?!“ Nein, können sie nicht. Denn Streit wappnet fürs Leben. Er ermöglicht, die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers zu verstehen. „Konflikte sind ein Übungsfeld und helfen dabei, Frustrationstoleranz zu erwerben. Kinder lernen so, ihre Bedürfnisse aufzuschieben“, meint Inés Brock-­Harder.

Beobachtungsstudien fanden he­raus, dass sich Geschwisterkinder bis zu acht Mal in der Stunde streiten. ­Eltern kann das in den Wahnsinn treiben. Dabei ist ihre wichtigste ­Rolle nicht, den Streit zu schlichten – sondern sich erst einmal zurückzuhalten. „Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder konfliktfreier miteinander agieren, wenn die Eltern nicht anwesend sind. Weil sie dann wissen, dass sie das irgendwie für sich lösen müssen. Ich würde mir wünschen, dass Eltern nicht sofort aufspringen, sondern sich in die Konflikte ihrer Kinder nur involvieren lassen, wenn es tatsächlich einen erwachsenen Streitschlichter braucht“, sagt Inés Brock-Harder.

Erst einmal beobachten – vielleicht die schwierigste Übung. Nicola Schmidt, Erziehungsexpertin und Autorin, meint, dass Kinder das sozial­verträgliche Lösen von Konflikten von uns Erwachsenen lernen müssen. „Wenn jemand seelisch oder körperlich verletzt wird, müssen wir eingreifen. Ich sage zu meinen Kindern: ‚Stopp! Ihr müsst euch nicht mögen, aber respektieren. Ich erlaube das nicht.‘ Familien brauchen so­ziale Regeln. Beleidigen ist weder verbal noch körperlich oder mit Blicken erlaubt“, sagt die 46-Jährige.

Keine Schiedsrichter

Wer als Elternteil die Rolle eines Schiedsrichters übernimmt, hat schon verloren. Es gehe darum zu fragen: Was ist hier los? Woher kommt der Druck? Was brauchen wir, um friedlich zusammenzuleben? ­Nicole Schmidt: „Dann lasse ich beide Kinder erzählen, was nach ihrer Ansicht zum Streit geführt hat, ohne ­einer Partei recht zu geben. Ich spiegele, was sie sagen: ‚Ah, Tom, du bist sauer, weil du die Decke zum Höhlebauen gebraucht hast.‘ ‚Und du, Lisa, findest, dass das keine Höhlenbau-­Decke ist. Verstehe.‘ Wenn alle sich beruhigt haben, sich gehört fühlen und verstanden haben, wie der an­dere die Situation sieht, wird überlegt: Wie lösen wir die Situation?“ So könnte Tom seine Höhle beispiels­weise mit einer anderen Decke bauen oder Lisa sie ihm ausnahmsweise ausleihen.

„Eigentlich müsste man immer auch gucken, wie viel Zeit sich Geschwister vertragen, wie oft sie mit­einander spielen – so setzt man Auseinandersetzungen in ein realis­tisches Verhältnis“, sagt Inés Brock­-Harder. Die Psychotherapeutin ­würde sich eher wundern, wenn Geschwister nicht streiten. Das könnte nämlich bedeuten, es ist nicht erlaubt. „Das wäre eine Unterdrückung von Gefühlen, was für die Entwicklung nicht gut ist. Streit gehört dazu, er ist wichtig – und im Lebensverlauf ändert er sich auch.“ Die gute Nachricht: Die Streitkultur entwickelt sich mit zunehmender Reife. Und egal, wie oft man sich in der Kindheit um den Ball gezofft hat: Die meisten Geschwister bleiben lebenslang enge Vertraute.


Quellen:

  • Feinberg M, Solmeyer A, McHale S: The Third Rail of Family Systems: Sibling Relationships, Mental and Behavioral Health, and Preventive Intervention in Childhood and Adolescence. Clinical Child and Family Psychology Review: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 16.05.2023)
  • Interview mit Erziehungsexpertin Nicola Schmidt am 15.03.2023.

  • Interview mit Psychotherapeutin Dr. Inés Brock-Harder am 14.03.2023.