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Herr Drautz, als im November und Dezember 2022 die Kinderkliniken wegen Influenza- und RSV-Fällen überliefen, kündigte die Politik an, Pflegende aus der Erwachsenen­medizin „abziehen“ zu wollen. Wie empfanden Sie das?

Also zunächst muss man feststellen, dass das nicht geklappt hat. Zumindest bei uns nicht. Da kam keiner herüber. Was nicht überraschend war, denn es ist ja nicht so, als hätten die Kolleginnen und Kollegen dort nichts zu tun.

Aber wie empfinden Sie solche Aussagen generell? Sie erwecken ja den Eindruck, als könnte man problemlos zwischen Kinder- und Erwachsenenmedizin wechseln.

Was soll die Politik anderes sagen? Das Kind ist längst in den Brunnen gefallen. Wir haben zu wenige Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger und können sie auch nicht herbeizaubern. Insofern war die Idee zu versuchen, in dieser Überlastungssituation auf Kräfte aus dem Erwachsenenbereich zurück­zugreifen, nachvollziehbar. Sie ist
nur nicht aufgegangen, weil auch dort bundesweit Personalmangel herrscht.

Hätte das mit genügend Kräften funktionieren können?

Ich habe Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach so verstanden, dass die Kolleginnen und Kollegen ja nicht für die schweren Fälle hätten kommen sollen, also für Intensivfälle, schwerstkranke oder frühgeborene Kinder zum Beispiel. Es ging eher um ältere Kinder, die an Atemwegserkrankungen oder Blasenentzündungen leiden. Das wäre grundsätzlich möglich gewesen, was aber nichts daran ändert, dass die Kindermedizin etwas sehr Spezielles ist und ich darum der Meinung bin, dass es dafür speziell ausgebildete Pflegekräfte braucht.

Das schreiben Sie auch in einer ­Petition, die Sie an Karl Lauter­bach gerichtet haben. Darin fordern Sie eine Rückkehr zur Kinderkrankenpflegeausbildung. Die wurde 2020 mit der Alten- und Krankenpflegeausbildung zusammengelegt. Die generalistische Ausbildung soll dazu befähigen, Menschen aller Altersstufen zu versorgen, auch Kinder. Was kritisieren Sie daran?

Ich halte das einfach für unrealistisch. In der neuen Ausbildung hat man jetzt 2500 Praxisstunden abzuleisten, wovon planmäßig gerade einmal 60 bis 120 Stunden auf die Pädiatrie ent­fallen – also maximal drei Wochen. Selbst wenn man sich im dritten Jahr für die Spezialisierung „Gesundheits- und Kinderkrankenpflege“ entscheidet, sind
es nur 500 Stunden mehr. Da fehlen dann immer noch gut 1000 Stunden und damit viel Erfahrung. Sind Sie Vater?

Ja, ich habe vier Kinder.

Ach, du meine Güte! Dann erinnern Sie sich sicher daran, wie es ist, so einen Säugling zum Beispiel zu wickeln. Vermutlich haben Sie anfangs auch gedacht, sie machen gleich etwas kaputt. Das ist auch ganz normal, man braucht Routine im Umgang mit Kindern. Und die braucht es auch in der speziellen Kinderkrankenpflege.

Sie sehen das Problem also weniger in einem möglicherweise fehlenden medizinischen Wissen als viel mehr im fehlenden Umgang?

Nein, natürlich haben Kinder auch andere medizinische Ansprüche, die ein spezielles Wissen erfordern. Aber Erfahrungen im Umgang mit Kindern sind ganz essenziell. Wenn ich die nicht habe, kann es schwierig sein, eine Vertrauensebene aufzubauen, und ohne die können Sie gar nichts machen. Nicht einmal Fieber messen. Die stellen sich einfach quer.

Kann man den Umgang mit ­Kindern überhaupt lernen?

Schon, aber es ist auch so, dass nicht in jedem Menschen ein Kinderkranken­pfleger oder eine -pflegerin steckt. Auch deshalb halte ich die generalisierte Ausbildung für einen großen Fehler.

Wieso?

Weil viele, die potenziell Interesse haben und geeignet wären, diese Ausbildung gar nicht erst beginnen werden. Wer Lust hat, mit Kindern zu arbeiten, wird sich kaum darauf einlassen, erst zwei Jahre lang ältere Menschen mit ihren ebenfalls spezifischen Bedürfnissen zu pflegen. Selbst wenn sie sich nach dem zweiten Jahr für die Kinderspezialisierung entscheiden, ist das ja so. Die gehen dann lieber in die Kita und werden Erzieher oder Erzieherin.

Gibt es bereits Zahlen dazu?

Nein, der erste Jahrgang mit generalisierter Ausbildung ist gerade ins dritte Jahr gekommen, und die Reform sieht vor, nach sechs Jahren zu evaluieren.

Welche Erfahrung macht denn Ihre Klinik?

Zu uns kommen vor allem die, die ihre Pflichteinsätze in der Pädiatrie machen müssen. Und von denen wollen sich kaum welche für die Spezialisierung Kinderpflege entscheiden. Das wird noch zu einem Riesenproblem werden, weil es ganz schwer ist, Leute aus anderen Bereichen zu bekommen. Kürzlich hatten wir eine große Image- und Rekrutierungsoffensive. Da haben sich die Kollegen und Kolleginnen richtig reingekniet und viele Leute eingeladen. Es haben auch einige bei uns angefangen, vor allem ausgebildete Kranken- und Altenpfleger, aber die meisten sind leider wieder weg. Einfach, weil sie recht schnell gemerkt haben: Kinderkrankenpflege, das ist nicht meins.

Sie sind Neuropädiater. Wie wichtig sind für Ihre Arbeit erfahrene, spezialisierte Pflegekräfte?

Grundsätzlich ist die Arbeit der Pflegenden für mich extrem wichtig. Bei uns ist ja ganz viel Einschätzungssache und ich brauche als Arzt ein gutes Feedback von ihnen. Dann gehören zu meinen Schwerpunkten die Epileptologie, das sind Kinder mit Krampfanfällen sowie Entwicklungsstörungen. Ich behandele dadurch relativ viele körperlich und geistig behinderte Kinder. Denen müssen Sie sich ganz anders nähern als einem Kind ohne Behinderung oder gar einem Erwachsenen. Ganz abgesehen davon, wie heftig es sein kann, zum Beispiel ein krampfendes Kind zu erleben. Da braucht man die Erfahrung und das Wissen, sonst ist man vollkommen überfordert – auch mental. Für die Arbeit mit solchen Patientinnen und Patienten mussten die Pflegenden vorher schon speziell ausgebildet werden. Aber nun kommen auch noch die fehlenden Stunden für eine grundsätzlich pädiatrische Ausbildung dazu. Und das frisst wei­tere Ressourcen, die wir nicht haben.

Was bedeutet der Mangel für Ihre Station? Kam es zu Situationen, die für Kinder kritisch waren?

Nein, bislang konnten wir jedem Kind, das Hilfe benötigte, helfen, aber vielleicht nicht mit der Zuwendung, die nötig gewesen wäre. Nehmen Sie beispielsweise Kinder, die bei uns wegen ihrer Epilepsie in Behandlung sind. Als wir im Winter wegen der ganzen RSV- und Influenza-Fälle voll waren, haben wir versucht, den Familien per Telefon zu helfen. Die mussten mit ihren Leiden zurückstecken. Das finde ich nicht in Ordnung. Wir würden gerne eine weitere Station mit zehn, zwölf Betten neu eröffnen, um mehr Kindern helfen zu können. Der Bedarf wäre da. Aber dafür müssten wir fünfeinhalb Stellen besetzen. Das Personal dafür finden wir nicht.

Gab es ein auslösendes Erlebnis für Ihre Petition?

Nein. Im November und Dezember brach einfach wieder alles auf uns herein. Wir wussten nicht mehr, wo oben und unten ist, und dann kam dieser Vorschlag, Erwachsenen-Pflege­kräfte auf die Kinderstationen zu holen. Wie gesagt, war das sicher gut gemeint, geht aber am eigentlichen Problem vorbei und blendet auch den grundsätzlichen Mangel aus. Am ersten Weihnachtstag hatte ich dann ein wenig Zeit, habe mich hingesetzt und die Petition gestartet.

Befürworter der Generalisierung, zu denen der Pflegerat gehört, ­verweisen darauf, dass Deutschland sich mit der Reform dem europäischen, wenn nicht internationalen Standard angenähert habe. Sie sehen einen Erfolg darin. Was sagen Sie dazu?

Es freut mich für Finnland, Schweden und die anderen Länder, die immer wieder genannt werden, wenn das System dort funktioniert. Aber ich zwei­fele ein wenig an der Vergleichbarkeit, denn deren Systeme sind ja schon im Grundsatz sehr verschieden zu unserem. Und die Frage sollte nur sein, ob es hierzulande funktioniert. Und das tut es nicht.

Bislang haben mehr als 130 000 Menschen die Petition ­unterzeichnet. Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Rückkehr zur alten Ausbildung?

Ich würde es mir wünschen, aber es ist eher sehr unwahrscheinlich. Wohl aber hoffe ich auf einen Effekt in der generalistischen Ausbildung. Einen im Sinne des Kindeswohls, zum Beispiel hin zu mehr Pflichteinsätzen in der Pädiatrie oder einer früheren Spezialisierung Richtung Kinderkrankenpflege ohne Umweg über die Altenpflege.

Hat sich Karl Lauterbach denn schon bei Ihnen gemeldet?

Nein, aber das Bundesministerium für Gesundheit. Sie haben noch mal be­stätigt, dass an dem aktuellen Ausbildungskonzept festgehalten werden soll. Ich hoffe einfach, dass sich etwas im Sinne unserer Kinder bewegt. Wir können es uns nicht leisten, ihnen zu schaden, indem wir die Pflege im Krankheitsfall zu leichtfertig mit
er bei Erwachsenen gleichsetzen oder potenzielle Pflegende mit dem klaren Fokus auf Kinder frühzeitig vergraulen.