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Sie erinnert sich noch genau an den Moment, in dem sie anfing, an Wunder zu glauben. Ju Hahn war 28 Jahre alt und saß aufgrund ­einer seltenen neurologischen Erkrankung bereits im Rollstuhl. Ähnlich wie bei einer Multiplen Sklerose löst die Krankheit bei ihr starke Ge­fühls­störungen in den Beinen aus. Sie ­hatte nicht damit gerechnet, dass sie Kinder bekommen kann. Und dann war sie plötzlich schwanger. „Für uns war es das große Glück“, sagt sie.

Doch die Freude bekam erste Risse, als sie mit ihrem Neurologen darüber sprach. Er habe Bedenken gehabt, wie sich die Schwangerschaft auf ­ihre Erkrankung auswirken kann, erzählt Ju Hahn. Trotzdem hielt sie fest an ­ihrem Wunschkind. „Ich war verun­sichert, aber ich wusste auch, wir schaffen das irgendwie.“

So wie Ju Hahn gründen viele Menschen mit Handicap eine eigene Familie. Sie haben ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob sie Kinder haben möchten, wie viele und zu welchem Zeitpunkt. So steht es in Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention. Bundesweit leben rund 1,5 Mil­lionen Kinder in Haushalten mit mindestens einem Elternteil mit Behinderung. Das geht aus Zahlen des Sta­tis­-
tischen Bundesamts hervor. Natürlich sind all diese Familien sehr unterschiedlich. Und trotzdem stehen viele von ihnen im Alltag vor ganz ähnlichen Problemen.

Das weiß auch Kerstin Blochberger vom Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern (bbe). „Leider stoßen Eltern mit Einschränkungen immer noch auf große Hürden“, sagt sie. Dabei hat sich aus recht­licher Sicht viel getan, seitdem 2020 das sogenannte Bundesteilhabegesetz in großen Teilen in Kraft getreten ist. Eltern mit Behinderung haben demnach Anspruch auf Unterstützung, etwa in Form einer Assistenz (siehe Kasten).

Ein Meilenstein sei das Gesetz, sagt Blochberger. Doch: „Es hakt in der Umsetzung der neuen Regeln.“ Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Expertise, die als Ergänzung zum Neunten Familienbericht der Bundesregierung erschienen ist. Defizite gibt es demnach vor allem im ländlichen Raum. Jeden Tag erreichen den bbe die Anfragen von Müttern und Vätern, die mit den Behörden um Unterstützung ringen. „Häufig ist das Problem schlicht Unwissen aufseiten der Ämter“, sagt Blochberger. Viel hänge auch von dem jeweiligen Sachbearbeiter oder der Sachbearbeiterin ab. „Wenn der Mitarbeiter der Meinung ist, er hätte in dieser Situa­tion keine Kinder bekommen, haben ­Eltern oft schlechte Karten.“ Dann bleibe ihnen nicht selten nur der Rechtsweg.

Ju Hahn und ihr Mann entschieden sich nach der Geburt ihres Sohnes gegen eine Elternassistenz. „Mir war klar, ich kann gut für mein Kind sorgen, wenn ich die richtigen Hilfsmittel habe“, sagt Hahn. Dazu zählte ein höhenverstellbares Kinderbett, aus dem sie ihr Baby auch im Rollstuhl hochnehmen kann. Sie fragte ihre Krankenkasse, doch die lehnte ab. Dem Familienbericht zufolge wird noch zu häufig übersehen, dass Hilfsmittel für Eltern zum Leistungskatalog in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zählen. Grundsätzlich entscheiden die Kassen aber immer im Einzelfall, welche Kosten sie übernehmen. Denn: In Deutschland gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot. Die Kassen müssten genau prüfen, ob ein Hilfsmittel medizinisch tatsächlich notwendig ist, erklärt eine Sprecherin des GKV-Spitzenverbands.

Am Babybett ließ Ju Hahn schließlich eine kleine Tür in die Gitterstäbe einbauen und organisierte sich damit eine Lösung auf eigene Faust – so wie für zahlreiche andere Probleme auch. Viele Eltern fühlen sich alleingelassen mit ihren Sorgen. Vor allem bei Menschen mit Lernschwierigkeiten kämen nicht selten Diskussionen mit dem Jugendamt dazu, berichtet Kers­tin Blochberger. Auch Svenja Liesch hat diese Erfahrung gemacht. Die dreifache Mutter lebt mit Autismus und Epilepsie. Als ihr Mann unerwartet starb, war sie plötzlich allein. Sie stellte einen Antrag auf Eltern­assistenz, doch der wurde abgelehnt.

„Mit meiner Behinderung galt ich pauschal als nicht erziehungsfähig“, berichtet Liesch. In den Gesprächen mit dem Sozialamt habe sie immer wieder gehört, dass Menschen mit Autismus nicht in der Lage seien, ­Nähe zuzulassen, und daher nicht für Kinder sorgen könnten. „Das ist ein Klischee und trifft nicht auf alle ­Autisten zu“, so Liesch. Die Behörde legte ihr pädagogische Hilfe in Form einer begleiteten Elternschaft nahe, doch das wollte Svenja Liesch nicht.

Da sie keine Unterstützung hatte, nahm schließlich das Jugendamt die Kinder in Obhut. Kerstin Blochberger kennt solche Geschichten. „Die Angst, die Behörden könnten die Kinder weg­nehmen, ist vor allem unter Allein­erziehenden weit verbreitet“, sagt sie. Allerdings gingen die Jugendämter sehr unterschiedlich vor. „Am besten ist es, wenn Jugend- und Sozialamt kooperieren, um gemeinsam mit den Eltern eine Lösung für die Familie zu suchen.“ Mehr Hilfe aus einer Hand fordern die Experten auch im Neunten Familienbericht der Bundesregierung.

Ein Jahr lang war Svenja Liesch von ihren Kindern getrennt. Immer wieder habe sie bei Ämtern vorgesprochen, sich schließlich sogar eine Anwältin genommen, erzählt die 32-Jährige. Heute begleiten an sieben Tagen in der Woche zwei Elternassistentinnen im Wechsel ihren Alltag. Sie helfen Liesch, den Überblick zu behalten im oft wuseligen Familienleben. Manchmal falle es ihr als Autistin auch schwer, immer auf Anhieb die Absichten ihrer Kinder zu erkennen. „Meine Assistentinnen ordnen dann die Situation für mich ein.“

Auf ihre Mutterrolle hätte sich Svenja Liesch gerne noch besser vorbereitet. Doch gezielte Angebote für Eltern mit Behinderung gibt es kaum. Eine Ausnahme ist ein Kurs, den pro familia in Frankfurt am Main organisiert. Zwei Mal im Jahr findet dort ein Geburtsvorbereitungskurs für Paare mit Behinderung statt – der einzige in ganz Deutschland. „Natürlich stellen sich alle werdenden Eltern im Prinzip die gleichen Fragen“, sagt Beraterin Susanne Bell, die den Kurs mit der Ärztin Hannelore Sonnleitner-Doll leitet. „Eltern mit Behinderung allerdings müssen darauf häufig individuellere Antworten finden.“

Genau darum geht es in dem Kurs. „Wir sprechen über die Geburt, aber auch über die neue Elternrolle und den Alltag mit Baby“, sagt Sonnleitner-Doll. So werden sich die Eltern bewusst, was sie wie stemmen und wo sie eventuell auf Unterstützung zurückgreifen können. Das Ziel: Die Eltern sollen gestärkt und selbst­bewusst aus dem Kurs hervorgehen. „Wir wollen Mut machen“, sagt Bell.

Trotz aller Schwierigkeiten – Kers­tin Blochberger vom bbe stellt fest, dass sich etwas bewegt. „Noch vor 20 Jahren wurden Menschen mit Lernschwierigkeiten einfach sterilisiert. Eltern mit Behinderung waren kaum sichtbar.“ Heute erlebe insbesondere die junge Generation diese Menschen immer häufiger als Teil ­einer gleichberechtigten Gesellschaft. „Eine offene Haltung nimmt zu.“

Auch Ju Hahn hofft, dass Elternschaft mit Behinderung immer selbst­-
verständlicher wird. Im Internet bloggt sie über ihren Alltag als inzwischen zweifache Mutter im Rollstuhl. „Natürlich habe ich mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen“, sagt sie. „Aber wir Eltern mit Behinderung sind vor allem eines: Mütter und Väter, die nur das Beste für ihre Kinder wollen – so wie alle Eltern.“

Welche Unterstützung Ihnen zustehen kann

Wer eine Behinderung oder chronische Krankheit hat, kann Anspruch haben auf verschiedene Formen der Unterstützung im Zusammenleben mit Kindern (www.behinderte-eltern.de).

Elternassistenz: Sie versetzt Eltern in die Lage, selbst­bestimmt für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Die Eltern­assistenz übernimmt praktische Aufgaben im Alltag,
die der Vater oder die Mutter nicht selbst erledigen kann.

Begleitete Elternschaft: Sie richtet sich vor allem an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Pädagogische Fachkräfte unterstützen Eltern in Erziehungsfragen und helfen dabei, den Familienalltag zu bewältigen.

Hilfen für Eltern mit psychischen Erkrankungen: Psychi­sche Leiden verlaufen häufig in Phasen. Dann brauchen Eltern kurzfristig Unterstützung. Für die Betroffenen gibt es verschiedene Angebote – von der Beratung der Eltern bis hin zur Begleitung der ganzen Familie.

Beratung und Austausch

Wichtige Unterstützung finden Eltern bei den Beratungsstellen der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (teilhabeberatung.de), die es in jedem Bundesland gibt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort beantworten auch Fragen zur Elternassistenz und helfen weiter, wenn ein Antrag abgelehnt wurde.

Je nach Behinderung brauchen Eltern besondere Hilfsmittel. Doch nicht immer gibt es passende Produkte, manchmal müssen sie selbst gebaut werden. Tipps für angepasste Hilfsmittel gibt’s beim Bundesverband behinderter Eltern (bbe).

Auch in Selbsthilfegruppen tauschen Eltern Erfahrungen aus. Beim bbe finden sie eine Übersicht regionaler Gruppen. Viele Familien schließen sich außerdem über die sozialen Netzwerke zusammen.


Quellen:

  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. https://www.bmas.de/... (Abgerufen am 15.03.2023)
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bundesteilhabegesetz. https://www.bmas.de/... (Abgerufen am 15.03.2023)
  • Sachverständigenkommission des Neunten Familienberichts: Eltern sein in Deutschland: Materialien zum Neunten Familienbericht. https://www.dji.de/... (Abgerufen am 15.03.2023)
  • Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern: Elternassistenz Unterstützung für Eltern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, Ratgeber für die Beantragung und Organisation personeller Hilfen zur Betreuung und Versorgung der Kinder. https://www.behinderte-eltern.de/... (Abgerufen am 15.03.2023)
  • Interview mit Kerstin Blochberger, Geschäftsführerin des Bundesverbands behinderter und chronisch kranker Eltern, am 17.01.2023.

  • Interview mit Susanne Bell, Beraterin, und Hannelore Sonnleitner-Doll, Ärtzin bei pro familia Frankfurt am Main, am 24.01.2023.

  • Interview mit Ju Hahn am 15.02.2023.

  • Interview mit Svenja Liesch am 25.01.2023.

  • Presseanfrage beim Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung am 24.02.2023.