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Morgens ist musikalische Früh­erziehung, dann geht es in den Bildungsbereich Natur. Um Punkt 12 Uhr gibt es Mittagessen, danach eine Pause, vielleicht etwas malen oder basteln. Nachmittags steht Turnen auf dem Programm, bevor es später wieder nach Hause geht.

So durchgetaktet ist der Alltag für viele Kita-Kinder in Deutschland. Langeweile? Kommt garantiert nicht auf. Die Kita ist heute ein Bildungsort, an dem Kinder schon früh gefördert werden. Davon profitieren sie in ihrer Entwicklung und es gibt mehr Chancen­gerechtigkeit. Doch zugleich bleibt den Kindern immer weniger selbstbestimmte Zeit – um zu spielen und die Welt auf eigene Faust zu erkunden.

Ständig Input von außen

Die Hamburger Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. Dorothee Möhrle sieht das äußerst kritisch. „Kinder brauchen nicht ständig Input von ­außen“, sagt sie. Gerade im freien Spiel würden sie in Ruhe aus eigenem Antrieb lernen und wichtige Entwicklungsschritte vollziehen. Dieser Prozess sollte gut und auch mit Anregungen begleitet werden. „Das kind­liche Gehirn muss aber unglaublich viel verarbeiten und braucht daher immer wieder Regeneration.“ Fehlten diese Pausen, gerate das Kind in eine permanente Belastung.

Studien zufolge leiden 42 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland oft unter Stress. Auch Dorothee Möhrle hat in ihrer Praxis immer häufiger mit den Folgen von Überlastung zu tun. Die Wurzeln liegen nicht selten in der frühen Kindheit. Zu schaffen macht vielen Kindern dabei auch die ständige Bewertung von ­außen, die nicht erst in der Grundschule beginnt. „Schon die Kitas geben Leistungsziele vor und dokumentieren das Können der Kinder anhand vorgegebener Muster“, erklärt die Pädagogin Dr. Heidemarie Arnhold. „Fällt ein Kind aus dem Rahmen, bekommt es nicht selten einen Stempel aufgedrückt.“

Fünfe gerade sein lassen

Arnhold leitet den Arbeitskreis Neue Erziehung in Berlin. Sie führt die Situation in den Einrichtungen vor ­allem auf gesellschaftliche Entwicklungen zurück: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und der Bedarf an qualifizierten Fachkräften ist groß. Das ist bereits in der Kita zu spüren.“

Eltern könnten ihre Kinder vor diesen Auswirkungen nicht vollständig schützen, dafür aber ein Vorbild sein und sich selbst nicht unter Druck setzen lassen. „Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass man auch einmal fünfe gerade sein lassen kann, und setzen Sie den Leistungs­erwartungen der Kita zu Hause ruhig eigene Normen ent­gegen“, sagt Arnhold. Vor allem aber: „Sprechen Sie kindgerecht und ehrlich über das Thema.“

Auch Psychiaterin Möhrle weiß, wie wichtig es ist, Kinder ernst zu nehmen: „Kinder brauchen einen sicheren Hafen. Wenn sie merken, dass Stress und Überforderung zu Hause richtig erkannt werden, entlastet das sehr.“ Dabei kann Überforderung sehr unterschiedlich zum Ausdruck kommen. Manche Kinder werden schnell wütend, andere wiederum ziehen sich zurück. Merken Eltern, dass ihr Kind anhaltend unter zu hohen Leistungserwartungen leidet, sollten sie das Gespräch mit den Erziehern suchen, rät Möhrle. Nicht selten ge­linge es dem Personal aufgrund knapp bemessener Betreuungsschlüssel kaum, das einzelne Kind in den Blick zu nehmen. „Umso wichtiger ist ein konstruktiver Austausch zwischen Eltern und Einrichtung.“

Zu hohe Erwartungen

Immer wieder allerdings bauen auch Eltern selbst Leistungsdruck auf. „Manche richten bereits in Kita-Jahren ­alles darauf aus, dass ihr Kind später Abitur macht – aus Sorge, dass es in unserer Gesellschaft sonst nicht mithalten kann“, sagt Pädagogin Arnhold. So werden Nachmittage zum Teil schon mit Englischkursen und Klavierunterricht verplant. „Dabei fragen sich ­diese Eltern viel zu selten, ob sie damit auch den Wünschen des Kindes nachkommen oder nur eigene Erwartungen erfüllen.“

Doch wie gelingt Förderung, ohne zu überfordern? Ansetzen sollte man immer bei den Stärken der Kinder, sagt Dorothee Möhrle. „Fördern heißt das Positive weiterentwickeln und Angebote machen für eventuelle Schwächen.“ Nur so werde das Kind mit Freude dabei sein. Das sieht Arnhold ähnlich: „Natürlich dürfen Kinder solche Angebote auch einmal ablehnen, wenn sie vielleicht lieber spielen wollen.“ Eltern dürften dann nicht enttäuscht oder besorgt sein. „Lassen Sie Ihr Kind ab und zu einfach mal in Ruhe – das kann so wichtig sein für eine gesunde Entwicklung.“


Quellen:

  • Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildung in der frühen Kindheit. https://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/... (Abgerufen am 22.02.2023)
  • Robert Koch Institut: Themenblatt: Stressbelastung bei Kindern und Jugendlichen. 1476359 (Abgerufen am 22.02.2023)
  • Interview mit Dr. Heidemarie Arnhold, Pädagogin und Vorsitzende des Arbeitskreises Neue Erziehung, am 09.01.2023.

  • Interview mit Dr. Dorothee Möhrle, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, am 11.01.2023.