Logo der Apotheken Umschau

Ferdinand vorm Traualtar, mit Baby im Arm, beim Schulabschluss – Anna K. (alle Namen der Familie geändert, der Redaktion aber bekannt) sieht diese Bilder vor ihrem geistigen Auge. Zukunfts­träume und Wünsche, die sie für ihren Sohn Ferdinand hatte, die sich vermutlich nie erfüllen werden. Der Sechsjährige hat das Fragile-X-Syndrom. „Das bedeutet, ein X-Chromosom ist an einer bestimmten Stelle brüchig. Dadurch sind die Verbindungen zwischen den Nervenzellen vermindert. Die Funk­tion des Gehirns wird damit gestört“, erklärt Dr. Ines Straube, Fachärztin für Kinderheilkunde im Sozialpädiatrischen Zentrum am Städtischen Klinikum Dresden. Jungen sind häufiger und schwerer betroffen als Mädchen. Das liegt daran, dass Mädchen zwei X-Chromosomen haben, Jungen dagegen nur eines.

Anders „Ein aufgewecktes Kerlchen war er noch nie“, meint Mutter Anna. Schon als Baby sei Ferdinand eher ruhig gewesen, habe keine Lust gehabt, sich zu drehen oder zu sitzen. Später habe er Probleme beim Laufen gehabt. Beim Sprechen sowieso. Mit zweieinhalb Jahren kann Ferdinand gerade mal drei Wörter sprechen. Als Mutter Anna und Vater Justus ihren Sohn mit anderen, gleichaltrigen Kindern vergleichen, fällt ihnen auf, dass ihr Kind in der Entwicklung hinterherhinkt. Sorgen haben sie sich dennoch erst mal keine gemacht. „Vielleicht braucht er eben einfach länger, war ein Gedanke und vielleicht auch, dass man ihm das ja ansehen würde, wenn da was wäre“, sagt die Mutter.

Erste Maßnahmen Bei der Vorsorgeuntersuchung U 7, die um den zweiten Geburtstag herum durchgeführt wird, fallen auch der Kinderärztin Defizite auf. Sie überweist die Familie an ein Sozial­pädiatrisches Zentrum zum „Heidelberger Elterntraining“. Bei diesem Programm lernen Eltern, ihr Kind gezielt sprachlich zu fördern. „Uns wurde erklärt, wie man ein Wimmelbuch richtig anschaut und welche Bedeutung das gemeinsame Spiel hat“, erzählt Anna. Zu Hause üben Mutter und Vater mit Ferdinand, er macht Fortschritte, aber nicht genug. Ferdinand bekommt Logopädie verordnet. Die Defizite bleiben. „Wir konnten ihm ja nicht mal ­eine Anweisung geben, wie ,Räum das ­bitte auf‘. Bei anderen gleichaltrigen Kindern habe ich beobachtet, dass sie solche Dinge verstehen“, sagt die Mutter. Auch zu verstehen, was Ferdinand wollte, sei sehr schwierig gewesen. Das, was Anna und Justus bei ihrem Kind auffällt, ist typisch für das Fra­gile-X-Syndrom. „Dazu haben die Kinder eine ungewöhnlich herabgesetzte Aufmerksamkeit. Die Eltern beschreiben zudem Verhaltensauffälligkeiten mit raschen Stimmungsschwankungen oder autistische Verhaltensweisen“, sagt Neuropädiater Dr. Jens Schallner von der Dresdner Uniklinik.

Diagnose Das Syndrom hat auch einige wenige äußerliche Merkmale wie einen länglichen Kopf, hohe Stirn oder abstehende Ohren. Oft steht der Mund bei den betroffenen Kindern offen. Ferdinands behandelnde Ärztin im Sozialpädiatrischen Zentrum hat schließlich einen Verdacht und schlägt der Familie eine humangenetische Untersuchung vor. Ferdinand ist dreieinhalb Jahre, als das „FraX“ durch eine Blutuntersuchung dia­gnostiziert wird. „Für mich ist die Welt zusammengebrochen. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, wie es weitergehen soll“, erinnert sich Vater Justus. Auf der anderen Seite sei es ein großes Glück gewesen, dass man diese Form der geistigen Behinderung schon so früh festgestellt habe, weil Ferdinand ab diesem Zeitpunkt gezielt gefördert werden konnte, meint die Mutter. Neuropädiater Schallner appelliert an alle Eltern, die Vorsorgeuntersuchungen mit ihrem Kind wahrzunehmen: „Wenn dort festgestellt wird, dass der Abstand zur Normalentwicklung groß ist, wird der Kinderarzt zum Entwicklungsneurologen überweisen. Insbesondere bei Hinweisen auf eine verzögerte geis­tige Entwicklung von ­einem Jungen sollte an das Fragile-X-­Syndrom gedacht werden.“ Bei Mädchen sei diese Erkrankung oft nicht so schwer ausgeprägt. Diese würden erst durch Lernschwierigkeiten beim Rechnen und logischen Denken auffallen oder weil sie sich schlecht konzentrieren können.

Fördern „Das betrifft jetzt mich, das betrifft mein Kind und das betrifft jetzt unser ganzes Leben. Das zu verinnerlichen, war ein langer Prozess“, seufzt Mutter Anna. Seit der Diagnose vor drei Jahren ist viel passiert: Ihr Sohn hat ­einen Integrationsplatz in der Kita. Er besucht eine Gruppe mit normal entwickelten Kindern. Im Gegensatz zu Gleichaltrigen liegt er in der Entwicklung etwa zwei Jahre zurück. „Die Schere wird immer größer, je älter die Kinder mit FraX werden“, erklärt Expertin Straube. Eine heilpädagogische Frühförderung sei daher besonders wichtig, weil diese alle Entwicklungsbereiche beinhaltet. Einmal wöchentlich lernt Ferdinand in diesem Rahmen, sich besser zu konzentrieren, Regeln bei einfachen Spielen einzuhalten oder wie man einen Stift beim Malen hält. Zusätzlich dazu erfolgt eine Ergotherapie, die direkt in der Kita einmal pro Woche stattfindet. Da das Syndrom bei den betroffenen Kindern oft unterschiedlich schwer ausgeprägt ist, wird sehr individuell behandelt. Schallner empfiehlt, je nach Bedarf das Kind in den Bereichen Körper­motorik, Sprache und Sprechen, Denken und Wahrnehmen, Sozialverhalten und Regulation zu fördern.

An alle betroffenen Familien: Habt Mut, seid stark, das Leben geht weiter und hält viele positive Überraschungen bereit, auch oder gerade mit FraX.

Alltag Das Leben mit einem besonderen Kind stellt die Eltern vor viele Herausforderungen. Kleine Dinge, die für Außenstehende lächerlich erscheinen mögen, sind für Ferdinand enorm wichtig und geben ihm Halt, wie etwa die tägliche Fahrt in die Tiefgarage, lacht Anna: „Ich muss jeden Tag langsam durchfahren, weil Ferdinand das Rolltor und die Technik liebt. Ich darf nicht draußen parken. Wenn ich das mache, ist sein ganzer Ablauf gestört.“ Dann kann es passieren, dass ihr Sohn anfängt zu weinen oder zu schreien. „Ferdinand hasst Federn und er ist sehr empfindsam, was Stoffe betrifft. Er findet viele Dinge eklig. Da kommt diese Autismus-Spektrums-­Störung durch, die man bei FraX-Kindern oft hat“, so die Mutter. Eine Flut an Eindrücken und Reizen kann den Kleinen schnell überfordern. Manches ist dadurch nicht möglich. „Ich liebe Fußball und würde gern mal mit meinem Kind ins Stadion gehen, aber dort sind zu viele Menschen und es ist einfach zu laut“, erzählt Vater Justus. Lange habe er gebraucht, um sich darauf einzustellen, dass manches eben nicht geht. Besonders herausfordernd ist, dass Ferdinand aufgrund seiner Behinderung manchmal unberechenbar ist. „Ich sage immer: Jetzt kommt wieder das Testbild bei ihm. Wenn er zum Beispiel Tretroller fährt, kann es durch ein Geräusch oder eine Lichtveränderung passieren, dass er weg ist, in seiner Welt. Da ist es auch egal, ob da ein ­Auto steht oder ob da ein Abgrund ist, er nimmt das nicht wahr.“ – Das Abtauchen in die Fantasiewelt kann aber auch nützlich sein, es hilft Ferdinand sich zu regulieren und sich selbst zu schützen.

Leben Vater Justus ist wichtig, dass sein Sohn Spaß am Leben hat und kein Druck auf sein Kind ausgeübt wird. Deshalb hat er dafür gekämpft, dass Ferdinand noch ein Jahr länger im Kindergarten bleiben darf. 2023 soll er dann ­eine Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ besuchen. Ob der Junge je rechnen und schreiben lernen wird, weiß keiner. Auch nicht, ob er je allein in seinem Leben zurechtkommen wird. „Wenn er auf diesem Stand bleibt, wird es bei ihm darum gehen, ob er den Toaster allein bedienen kann oder den Geschirrspüler“, meint Justus. Vater und Mutter teilen die Sorge und Angst, was mal sein wird, wenn sie nicht mehr sind. Wie wird er das empfinden und bewältigen? Aber, und das wissen beide, diese Fragen stellen sich ebenso Eltern normal entwickelter Kinder. Während diese aber häufig unter Erfolgsdruck stehen, was die schulische Ausbildung betrifft und den Werdegang ihres Sprösslings, wird es bei Ferdinand nie um „Höher, schneller, weiter“ gehen. Das empfinden beide fast wie eine Befreiung.


Quellen:

  • Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V.: Was ist „Fragiles-X“?. https://www.frax.de/... (Abgerufen am 06.09.2022)
  • Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung: Patienten Information, Fragiles-X-Syndrom – was bedeutet das für ein Kind?. https://www.patienten-information.de/... (Abgerufen am 06.09.2022)
  • MGZ - Medizinisch Genetisches Zentrum München: Fragiles-X-Syndrom, Diagnostik über folgende genetische Analyse(n)/Panel möglich. https://www.mgz-muenchen.de/... (Abgerufen am 06.09.2022)