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8,9 Millionen Erwachsene in Deutschland ­haben Diabetes

An den Tag seiner Diabetes-Diagnose erinnert sich Andreas Wartha aus Düsseldorf genau: „Ich dachte daran, wie viel Süßes ich andauernd aß, und hatte Angst, bald zu sterben, wenn ich nicht sofort etwas ändere.“ Ihm sei klar gewesen, dass er nicht sehr gesund lebe, sagt der 60-Jährige. Doch als ihm die Diabetologin an diesem Tag im Oktober 2018 erzählte, welche Folgeerkrankungen ihm drohen, war das für ihn „wie ein Tritt in den Hintern“.

Ernährung umstellen, Sport machen, abnehmen: Das waren seine Ziele. Mit einer Stunde Radeln täglich fing er an. „Ich war anfangs so stark übergewichtig, dass Radfahren das Einzige war, was für mich infrage kam.“ Heute ist er 35 Kilo leichter, hat seine Blutzuckerwerte bestens im Griff und sagt: „Diabetes ist eine Krankheit, die jeden Tag Aufmerksamkeit will. Die gebe ich ihr. Insgesamt fühle ich mich so wohl wie lange zuvor nicht mehr.“

Diabetes als Chance? Andreas Wartha erlebt es so. Inzwischen unterstützt er als Coach andere Menschen dabei, besser mit der Erkrankung klarzukommen. Hilfsangebote sind dringender notwendig als je zuvor. „Seit 1960 hat sich die Anzahl der Menschen mit Diabetes in Deutschland verzehnfacht“, berichtet Prof. Dr. Wolfgang Rathmann vom Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf. Die überwältigende Mehrheit, ungefähr 90 Prozent, hat Typ-2-Diabetes. Was das bedeutet, zeigt eine aktuelle Studie. Dieser zufolge raubt Typ-2-Diabetes Menschen in Europa durchschnittlich 5 bis 13 Lebensjahre – je früher der Beginn, desto mehr. 13 Jahre sind es im Schnitt, wenn jemand bereits im Alter von 30 oder noch eher erkrankt.

Andreas Wartha will aber alt werden, „so wie ‚Jopi‘ Heesters“. Und er möchte, dass seine Enkelkinder lange etwas von ihm haben. Sie sind seine Motivation, sich jeden Tag aufs Neue zu bewegen, zum Training ins Fitnessstudio zu gehen und seine gesunde Ernährung beizubehalten. Wartha weiß: Tut er es nicht, drohen Folgeerkrankungen. Mit Diabetes steigt das Risiko vor allem für Gefäßkrankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Nierenversagen, aber auch für Infektionen und einige Arten von Krebs.

Zwar lassen sich sämtliche Risiken bei optimaler Behandlung, wie Wartha sie täglich anstrebt, auf das ­Niveau von Gesunden senken. Die Blutzuckerwerte können sich sogar normalisieren und der Diabetes zumindest vorübergehend verschwinden, ohne dass Medikamente nötig sind. Allerdings erreichen Erkrankte diese ideale Verbesserung längst nicht immer – und vor allem oft nicht über längere Zeit. Der Hauptgrund: Wenn man in „alte Muster“ verfällt, kehren das Übergewicht und auch der Dia­betes zurück. Mit den bislang gängigen Therapien schaffen es derzeit nur etwa 15 Prozent der Patientinnen und Patienten, dauerhaft schlanker zu bleiben.

Altersdiabetes hieß Typ-2-Diabetes früher einmal. Das passt nicht mehr, steckt aber noch in den Köpfen. „Unserer Gesellschaft fehlt das Bewusstsein dafür, wie früh man gegensteuern muss, um sich vor Typ-2-Diabetes und dessen Folgen zu schützen“, sagt der Diabetologe Prof. Dr. Baptist Gallwitz vom Univer­sitäts­klinikum Tübingen, der auch Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft ist. Verantwortlich dafür sei auch die Stigma­tisierung, die der Krankheit anhafte. „Es herrscht immer noch die Vorstellung, die Menschen seien selbst schuld daran, wenn sie dick werden und Diabetes bekommen, und sie müssten sich einfach nur zusammenreißen“, so Gallwitz. Tatsächlich erfordert es einiges an Selbstdisziplin, einen Typ-2-Diabetes zum Rückzug („Remission“) zu bringen. Allem voran: einige Kilos abnehmen. Wartha ist das gelungen. Und noch viel mehr: Er hält sein Gewicht. Zudem sind seine Blut­zuckerwerte seit Sommer 2019 normal. Und das ganz ohne blutzuckersenkende Medikamente.

Wer bereits an einer Diabetes-Vorstufe leidet, es aber schafft, seinen BMI – eine Maßzahl, die das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße ausdrückt – um einen Punkt zu senken, „steigert seine Chance auf eine Remission um 24 Prozent“, erklärt Epidemiologe Rathmann. Der BMI berechnet sich aus dem Quotienten aus Körpergewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m²). Auch das Risiko für lebensbedrohliche Diabetes-Folgen schmilzt mit jedem Kilo.

Das Abspecken und die Normalisierung des Blutzuckerstoffwechsels können gelingen, wenn man sich bei Zucker und anderen ungesunden Kohlenhydraten deutlich einschränkt, etwa bei Limo, Süßigkeiten, Weißmehlprodukten, Reis, Bananen oder Weintrauben. Ballaststoffreiche Lebensmittel wie Vollkornprodukte, alle Gemüsesorten und zuckerarme Obstsorten wie Beeren gehören dagegen auf den Teller. Dazu: Bewegung. 150 Minuten pro Woche sollten es laut Weltgesundheitsorganisation mindestens sein. Am besten eine Mischung aus Ausdauer- und Krafttraining. Positiver Nebeneffekt: Die Kombi aus gesunder Ernährung und Bewegung wirkt auch gegen Bluthochdruck und senkt das Krebsrisiko.

Andreas Wartha hat alles beherzigt. Jetzt bestärkt er andere Betroffene, die Herausforderung „Diabetes“ anzunehmen. Jeder und jede kann es schaffen, mit der Erkrankung gut zu leben. Bezogen auf die Gesellschaft ist es aber keine Lösung, die Verantwortung komplett auf das Individuum zu laden. Unsere Lebens­umstände begünstigen Übergewicht und Typ-2-Diabetes. Das belegen unzählige Studien. Darum fordern Diabetes-Expertinnen und -Experten in Deutschland einhellig politische Maßnahmen: Keine Mehrwertsteuer auf Gemüse und Obst, stattdessen sollten Steuern auf ungesunde Lebensmittel wie zuckerhaltige Softdrinks massiv erhöht werden.

Weil Übergewicht oft schon im Kindes­alter entsteht, müsste vor allem der Nachwuchs besser geschützt werden. Gallwitz zählt auf, was helfen könnte: „Ein Werbeverbot für Süßigkeiten und zuckrige Getränke für Kinder, verpflichtende Standards für die Verpflegung in Kitas, Kindergärten und Schulen sowie mindestens eine Stunde Bewegung täglich für Kinder in öffentlichen Einrichtungen.“ Mit diesen Maßnahmen würde man alle Bundesbürger erreichen, auch die finanziell schwachen. „Unsere bisherigen Vorsorgemaßnahmen sind nicht auf sie zugeschnitten und kommen oft nicht an, dabei sind sie am stärksten gefährdet, Typ-2-Diabetes zu bekommen“, erklärt Rathmann. Das sieht auch Andreas Wartha so. Gemeinsam mit der Berliner Organisation diabetesDE – Deutsche ­Diabetes-Hilfe und dem
Verein Dia Engel aus Duisburg startet er gerade Kinder-Kochkurse. Sein Wunsch für die Zukunft: ein Zusammenschluss aller Verbände, die bisher sehr sinnvolle, aber kleine Einzelprojekte umsetzen.

Bis dahin gilt, was die Diabetes-Forscherin Dr. Kerstin Kempf vom Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum in Düsseldorf über Typ-2-Diabetes sagt: „Die Hauptarbeit liegt bei den Patientinnen und Patienten. Verbesserungen sind realistisch, und sie zahlen sich aus.“ Körperlich, aber auch psychisch. Das kann Andreas Wartha nur bestätigen. Auch wenn es ein „24-Stunden-Job“ ist, den Diabetes in Schach zu halten: Sein altes Leben möchte er trotzdem nicht zurück.


Quellen:

  • Kaptoge S, Seshasai S, Sun L et al.: Life expectancy associated with different ages at diagnosis of type 2 diabetes in high-income countries: 23 million person-years of observation. Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 15.12.2023)
  • Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe: Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2024. Online: https://www.diabetesde.org/... (Abgerufen am 15.12.2023)
  • Kellerer M im Auftrag der Deutschen Diabetes Gesellschaft: Diabetologie und Stoffwechsel, Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Online: https://www.ddg.info/... (Abgerufen am 14.12.2023)
  • Robert Koch Institut: Themenblatt: Adipositas. Online: https://www.rki.de/... (Abgerufen am 14.12.2023)
  • Sandforth A, Jumpertz von Schwartzenberg R, Vazquez Arreola E et al.: Mechanisms of weight loss-induced remission in people with prediabetes: a post-hoc analysis of the randomised, controlled, multicentre Prediabetes Lifestyle Intervention Study (PLIS). Online: https://www.thelancet.com/... (Abgerufen am 14.12.2023)