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Ursel Schmid ist angekommen. Stolz präsentiert sie ihr Zimmer. Es erzählt die Geschichte eines erfüllten Lebens. Fotos hängen an den Wänden, Orchideen, Püppchen und Bücher zieren die Regale. „Ich bin hier sehr glücklich“, sagt die 67-Jährige. Seit ihrer Geburt leidet sie an einer spastischen Lähmung und ist inzwischen auf einen Rollstuhl angewiesen. Schmid lebt in einer speziellen Wohngruppe, die Teil eines Pilotprojekts ist: Seit 2017 betreibt die Stiftung ICP München ein duales Wohnheim für derzeit 60 körper- und mehrfachbehinderte ältere Erwachsene. „Ihre Zahl wächst, weil sie glücklicherweise immer älter werden“, sagt Einrichtungsleiter Peter Lucht. „Doch spezielle Pflegeangebote gibt es für sie kaum.“

Das merkte auch Ursel Schmid, als sie nach einer Knie-OP vor zwei Jahren stark eingeschränkt und pflegebedürftig war. In ihre Wohnung zurück konnte sie nicht mehr. „Aber in einem normalen Seniorenheim leben zu müssen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Da wäre ich doch eingegangen.“ Tatsächlich liegt das Durchschnittsalter in allgemeinen Pflegeheimen meist bei mehr als 80 Jahren, und bei schätzungsweise der Hälfte aller Bewohnerinnen und Bewohner liegt eine Demenz vor. Ursel Schmid hingegen ist geistig fit und hat ihrer Behinderung wegen lediglich körperlich früher und schneller abgebaut. Die Wohngruppe der Stiftung ICP München ist daher genau das Richtige für sie: Der Altersschnitt liegt bei Ende 50, und es gibt nicht nur genügend Personal für physio- und ergotherapeutische Behandlungen. Sondern auch dafür, gemeinsam zu kochen oder die Bewohnerinnen und Bewohner mal in die Stadt zu begleiten. „Ich gehe gerne einkaufen und finde immer eine Betreuerin, die mitkommt und mir hilft“, sagt Ursel Schmid.

Sabine Schäper nennt das „Teilhabe“. Sie ist Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster und beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema „Alter und Behinderung“. Schäper war in den 1990er Jahren selbst Leiterin einer Behinderteneinrichtung – zu einer Zeit, in der die ersten Menschen mit Behinderungen ins Seniorenalter kamen. Erst diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, hatten überhaupt die Chance, alt zu werden. Im Nationalsozialismus ist fast eine ganze Generation von Menschen mit Behinderung in Deutschland ermordet worden. Heute ist es selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderungen Teil der Gemeinschaft sein und eigenverantwortlich leben sollen. „Das Recht auf eine selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ein Menschenrecht“, sagt Schäper. „Es gilt für Menschen mit und ohne Behinderung – und bis ans Lebensende.“

Die Vereinten Nationen erließen im Jahr 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention und gaben dem Recht damit noch mehr Bedeutung. In Artikel 19 heißt es etwa, dass auch Menschen mit Behinderungen entscheiden dürfen, wo und mit wem sie leben. Deutschland versucht vor allem über das Bundesteilhabegesetz, der Konvention gerecht zu werden. „Seit diesem Gesetz sprechen wir von Personenzentrierung, also davon, dass sich Leistungen, die die Teilhabe sichern, am Bedarf der jeweiligen Person orientieren“, erklärt Sabine Schäper.

Im Falle von Ursel Schmid ist das zum Beispiel die intensive Physiotherapie, die ihre Gesundheit und damit die Basis aller Teilhabe erhalten soll. Aber auch die Betreuerin, die mit ihr in die Stadt fährt, gehört dazu. Die Stiftung ICP München beschäftigt deshalb nicht nur medizinische Pflegekräfte, sondern zum Beispiel auch Heilerziehungspfleger oder Heilpädagoginnen und hat einen Weg gefunden, das auch finanziert zu bekommen. Das ist leider nicht immer so.

Denn es ist kompliziert in Deutschland. Das System sei „versäult“, so nennt es Sabine Schäper. Eine Säule ist die Altenhilfe. Hier geht es meist um die Versorgung von stark pflegebedürftigen, alten Personen. Eine andere Säule ist die Behindertenhilfe, die sich um Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben kümmert. Nicht immer können Wohngruppen der Behindertenhilfe den wachsenden Bedarf an Pflege von älteren Bewohnerinnen und Bewohnern sicherstellen. Dagegen kommen in vielen Einrichtungen der stationären Langzeitpflege, zu denen reguläre Seniorenheime zählen, die Teilhabeangebote zu kurz. Dass beide Säulen wie bei Ursel Schmid ineinandergreifen, ist noch selten. Es hängt nach Einschätzung von Sabine Schäper mitunter vom Selbstverständnis und Engagement des jeweiligen Trägers ab und davon, wer letztlich die Kosten trägt. Das führt dazu, dass Menschen mit Behinderung im Alter nicht immer die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Wohnformen zu wählen oder überhaupt eine geeignete zu finden.

Der Bedarf an Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren mit Behinderung wird aber weiter steigen. „Jetzt erst nimmt das Thema richtig an Fahrt auf“, sagt Dr. Christian Kranjčić, Vorstandsmitglied des evangelischen Fachverbands für Teilhabe und Leiter Eingliederungshilfe der gemeinnützigen Augustinum Stiftung in München. Was passiert, wenn die Pflegebedürftigkeit zunimmt? Wenn eine Demenz hinzukommt, die zum Beispiel bei Menschen mit Down-syndrom früher auftritt als in der Allgemeinbevölkerung? „Wir versuchen, die Menschen so lange wie möglich bei uns zu behalten und ihnen im Zweifel adäquate Plätze in Pflegeeinrichtungen zu suchen, was allerdings sehr, sehr mühsam ist“, sagt Kranjčić. Er sieht eine weitere Herausforderung darin, dass viele Menschen mit Behinderung zu Hause bei den Eltern leben, die selbst alt und pflegebedürftig werden.

So war das auch bei Sonja Peetz, die mit der Diagnose Multiple Sklerose lebt. Bis zu seinem Tod 2017 kümmerte sich ihr Vater um sie. Mit 39 Jahren hatte bei ihr ein schwerer Schub zu körperlichen Behinderungen und einer Wesensveränderung geführt. Die heute 56-Jährige konnte nicht mehr arbeiten, war auf intensive Betreuung angewiesen. Nach dem Tod des Vaters musste Peetz’ jüngere Schwester Sandra Mildner überlegen, wie es weitergeht. „Ich hätte Sonja bei mir aufnehmen können, aber die Pflege hätte ich neben meinem Beruf nicht geschafft.“ Sie machte sich also auf die Suche nach einer geeigneten Unterbringung: „Das war frus­trierend. Bei uns in Franken gab es weit und breit keine passende Einrichtung.“ Heute wohnt auch Sonja Peetz in der Wohngruppe der Stiftung ICP in München, die Sandra Mildner zufällig im Internet entdeckte. „Ein Geschenk des Himmels“, sagt sie.

Sonja Peetz genießt die gemeinsamen Mahlzeiten mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, hat Freundschaften geschlossen und macht gerne bei Gruppenangeboten mit. Alt fühle sie sich mit ihren 56 Jahren noch nicht, sagt sie. Aber sie finde, dass sie am richtigen Ort sei, um alt zu werden. Einrichtungsleiter Peter Lucht freut das: „Die Wohngruppe ist so angelegt, dass Menschen dort viele Jahre leben können. Wir möchten ihnen auch noch im hohen Alter ein gutes Angebot machen.“

Im Alter noch einmal den Wohnort zu wechseln, das gewohnte Umfeld zu verlassen, das ist für viele Menschen schwierig – für Menschen mit geistigen Behinderungen oftmals besonders. Häufig kommt dieser Zeitpunkt mit dem Abschied aus der Werkstatt oder dem Förderzentrum. Viele Wohngruppen sind allerdings noch nicht darauf ausgerichtet, älteren Bewohnerinnen und Bewohnern auch tagsüber Angebote zu machen, die ihnen die so wichtige Tagesstruktur geben.

Peter Grotkopp konnte sich immer sicher sein, in seinem Zuhause bleiben zu können. Mit 36 Jahren zog er als einer der ersten in eine Wohngruppe der Rosa-Settemeyer-Stiftung, Behinderten-Heimat Norderstedt. Rosa Settemeyer ist Mutter von zwei geistig behinderten Kindern und gründete die Stiftung 1992, um ihnen und anderen Menschen mit Behinderungen eine sichere Perspektive zu geben. Das Stiftungsziel war und ist ein lebenslanges Wohnrecht.

Grotkopp leidet an einem frühkindlichen Hirnschaden. 40 Jahre arbeitete er bis zu seiner Rente 2022 in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Er verpackte Nägel und Prothesen oder half bei der Herstellung von Elektrokabeln. Am Ende arbeitete er nur noch halbtags und am Mittwoch gar nicht, aber in die Vorrentnergruppe sei er nicht gegangen. „War mir zu langweilig“, erzählt Grotkopp. Von den rund 300 Euro, die er verdiente, kaufte er gerne CDs – Volksmusik.

Grotkopp leidet an Epilepsie, ist nicht mehr so mobil, kann nur noch schlecht sehen und muss mehr dazu motiviert werden als früher, aktiv zu sein. In der Wohngruppe hat er Aufgaben zugeteilt bekommen. „Das gibt den Menschen Anerkennung“, sagt Karin Ellinghausen, Geschäftsführerin der Stiftung. Der Tag ist nach wie vor klar strukturiert, nur kann Peter Grotkopp nun länger schlafen, was ihn freut. Nach dem Frühstück geht er gerne spazieren. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, nachmittags Kaffee, dazwischen Beschäftigungsmöglichkeiten. An diesem Mittwochmorgen verziert Grotkopp zum Beispiel gemeinsam mit anderen einen Kuchen.

Sabine Schäper sagt, dass viele Einrichtungen sich mittlerweile auf Rentner mit Handicap wie Peter Grotkopp eingestellt haben. Kritisch sieht sie, dass bei der Frage, wie den Menschen eine Tagesstruktur geboten wird – ob es also zum Beispiel eine Tagesgruppe im Haus gibt oder außerhalb oder gleich in der Werkstatt – mehr die Perspektive der Einrichtung zähle als die der Menschen. Das, was strukturell machbar ist. „Das ist verständlich, aber in der Regel haben die Rentner und Rentnerinnen so nicht die Wahlfreiheit, die sie haben sollten.“ Im Idealfall und im Sinne echter Inklusion, sagt Sabine Schäper, seien ältere Menschen mit Behinderungen einfach dort, wo diejenigen ohne Behinderung auch seien – in Seniorencafés oder bei den Volkshochschulen zum Beispiel. „Die klassische Seniorenarbeit hat diese Personengruppe leider aber noch nicht so im Blick.“


Quellen:

  • Friedrich Dieckmann, Christos Giovis, Ines Röhm : Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland. Lebensqualität im Alter, Gesundheit. Politik - Gesellschaft - Wirtschaft book series (GEPOGEWI): https://link.springer.com/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP): Stationäre Pflegeeinrichtungen in Deutschland. online: https://www.zqp.de/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Antonia Thimm Bianca Rodekohr Prof. Dr. Friedrich Dieckmann, et al.: Wohnsituation Erwachsener mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe und Umzüge im Alter, „Modelle für die Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter innovativ gestalten“ (MUTIG). inform-lebenshilfe.de: https://www.inform-lebenshilfe.de/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • World Health Organization (WHO): Disability, Key Facts. online: https://www.who.int/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Statistisches Bundesamt : Fast 6 Millionen ältere Menschen leben allein, Pressemitteilung Nr. N 057 . online: https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • demenzportal.at: Geistige Behinderung und Demenz. online: https://demenz-portal.at/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Marie Schrödel, Sven Bärmig : Fehlplatziert – 30 Jährige im Altenheim., Eine qualitative und quantitative Studie zur Platzierung von Men- schen unter 65 in Leipziger Altenheimen. . researchgate.net: https://www.researchgate.net/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Bundesministerium für Gesundheit: Siebter Pflegebericht, Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Berichtszeitraum: 2016-2019. online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 16.01.2024)
  • Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen: "Am Ende geht es um Da-Sein ..." , Palliative Versorgung und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung . online: https://www.picardi-projekt.de/... (Abgerufen am 16.01.2024)