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An die erste Attacke erinnere ich mich noch genau. Es war der Tag vor der ersten Abiturprüfung. Am Morgen saß ich noch über meinen Büchern, am Nachmittag krümmte ich mich auf dem Sofa. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen, mir war unglaublich übel. Als der Kopfschmerz am schlimmsten war, musste ich mich übergeben.

Seitdem gab es kein Jahr, selten einen Monat, in dem die Migräne mich nicht begleitet hat. Viele Tage, an denen ich mich nur noch im abgedunkelten Zimmer verkriechen konnte. Manchmal fühlt es sich an, als würde sich mein Gehirn ausdehnen. Manchmal, als würde mir jemand die Schläfe anbohren, immer die rechte. Aber die Migräne kann sich auch anschleichen. Vom Nacken hochkriechen, nach vorn zur Stirn. Sich anfangs nur durch ein leichtes Ziehen an der Schläfe bemerkbar machen. Aus dem Ziehen wird ein Drücken, aus dem Drücken ein Pochen. Aus dem leichten Kopfschmerz eine Migräne-Attacke.

Ich weiß, ich bin nicht allein. 10 bis 15 Prozent der Deutschen haben Migräne – bei vielen, wie auch bei mir, tritt sie im jungen Erwachsenenalter, zwischen 20 und 30, zum ersten Mal auf. Die meisten, wie auch ich, leiden unter episodischer Migräne. Das heißt, auf Migränetage folgt eine schmerzfreie Phase. Bei mir sind das mal sieben ­Tage, mal zwei Wochen, in denen es mir gut geht und ich gar keine Kopfschmerzen ­habe. Dann fühlt es sich fast so an, als gehöre diese Erkrankung gar nicht zu mir. Von chronischer Migräne sprechen Medi­zinerinnen und Mediziner bei mehr als 15 Schmerztagen im Monat.

Reiz-Überflutung im Gehirn

Die Veranlagung, eine Migräne zu entwickeln, ist genetisch bedingt, sie wird vererbt. „Man kommt schon mit einem Migräne-Gehirn auf die Welt“, sagt Professorin Dagny Holle-Lee, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums am Universitätsklinikum Essen. Dieses Migräne-Gehirn reagiert besonders empfindlich auf Reize von außen. Es kann sie schlecht filtern und ausblenden, nimmt alles auf. „Migräne-Patienten sind die Menschen, die alles bemerken und hören: jedes kleine Klicken oder Klopfen. Die die Baustelle vor der Haustür genauso wahrnehmen wie den tropfenden Wasserhahn“, sagt Holle-Lee. Aber es sind nicht nur solche Reize. Es ist auch der Abend auf der Geburtstagsfeier einer Freundin im Café, das Stimmengewirr gemischt mit lauter Musik und Gesprächsfetzen. In solchen Momenten kann ich fast spüren, wie mein Gehirn versucht, all diese Eindrücke auf einmal aufzunehmen. Ich kann die Anstrengung wahrnehmen, die Überlastung. Dann überfällt mich eine bleierne Müdigkeit und ich möchte sofort einschlafen. Meist ist das schon der Vorbote der nächsten Attacke.

Die Anstrengung, alle Reize zu verarbeiten, und die verstärkte Reaktion des Gehirns darauf sind real. Dazu empfängt das Gehirn mehr Schmerzsignale als im Normalzustand und die Hirngefäße dehnen sich aus. „Um die Hirngefäße herum kommt es zu ­einer leichten Entzündung an den Hirnhäuten“, erklärt mir Dr. Robert Fleischmann, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Greifswald. Dagny Holle-Lee vergleicht es mit einem „Sonnenbrand auf dem Gehirn“. Diese Entzündungsreaktion unterscheidet die Migräne auch vom Spannungskopfschmerz. Während einer Attacke wird ­außerdem vermehrt ein Eiweiß namens CGRP ausgeschüttet – das Wissen darum wird mittlerweile erfolgreich in der Migräne-Prophylaxe angewendet.

Schon wieder Kopfschmerzen?

Früher habe ich mich oft gefragt, warum mein Gehirn ein Migräne-Gehirn ist. Es ist eine Frage, die noch niemand zufriedenstellend beantworten kann. „Migräne entsteht durch Vorgänge, die wir immer noch nicht richtig verstehen“, sagt Dagny Holle-Lee. Und wer weiß, ob das Wissen um die genaue Ursache meiner Attacken diese einfach wegzaubern könnte? Ich halte es für unwahrscheinlich. Lange habe ich mich für meine Migräne geschämt, selten davon erzählt. Es ist nicht einfach zu sagen: „Ich habe Migräne.“ Für die Menschen um mich herum bin ich vielleicht etwas stiller und blasser als sonst. Keiner kann wissen, dass ich mir gerade gerne den Kopf abreißen oder mein Gehirn umtauschen möchte. Ich kenne die skeptischen Blicke: Simuliert sie nur? So schlimm kann es doch nicht sein. Schon wieder Kopfschmerzen? Sie ist aber ganz schön empfindlich, wenig belastbar.

Dabei sind viele Migräne-Betroffene wahrscheinlich eher das Gegenteil – vielleicht belaste ich mich in manchen Phasen zu sehr, will zu viel schaffen und mein Migräne-Gehirn kommt irgendwann nicht mehr hinterher. „Studien konnten belegen, dass eine erhöhte Ängstlichkeit, einhergehend mit zum Beispiel einem katastrophisierenden Denkstil, das Risiko für eine Chronifizierung der Migräne-Erkrankung steigert“, sagt Clarissa Verschoof, Psychotherapeutin an der Migräne-Klinik ­Königstein. Doch bedingt diese Ängstlichkeit die Migräne oder umgekehrt? Wer Termine absagen musste wegen ­einer Attacke, auf Familienfeiern fehlte oder im Urlaub mit Kopfschmerzen im Bett lag, neigt vielleicht eher zu Ängstlichkeit. Die Migräne kann mir immer ­einen Strich durch die Rechnung machen. Ich versuche, meine Planung davon nicht mehr bestimmen zu lassen.

Auslöser werden überschätzt

Denn was ich verstanden habe, ist: Nicht die Migräne passt sich meinem Leben an. Mein Alltag muss sich auf die Migräne einstellen. Das bedeutet für mich vor allem Regelmäßigkeit und Struktur. Die Liste meiner möglichen Auslöser oder „Trigger“ ist mehr als eine Seite lang, aber ich verwende nicht mehr so viel Energie darauf, auf sie zu achten. „Die meisten Auslöser werden überschätzt“, sagt Dagny Holle-Lee. „So löst zum Beispiel der Heißhunger auf Schoko­lade die Migräne gar nicht aus, sondern gehört schon zur Attacke dazu. Das gilt für die meisten sogenannten Trigger.“ Gesichert ist: Der weibliche Zyklus, die Mens- truation, kann mit Migräne einhergehen – deshalb sind mehr Frauen betroffen. Auch das Wetter kann Attacken auslösen sowie definitiv ein unregelmäßiger Schlafrhythmus – weshalb viele Betroffene vor allem am Wochenende leiden.

Es ist ein schmaler Grat: nicht zu wenig schlafen, aber auch nicht zu lange. Ich weiß außerdem: Ich muss regelmäßig essen, vor allem ausreichend frühstücken. Bloß keine Mahlzeit auslassen, schon gar nicht mit nüchternem Magen das Haus verlassen. Ich bin erst sehr spät zum Arzt gegangen, es waren doch „nur“ Kopfschmerzen. Heute bereue ich das und bin froh, eine Neurologin zu haben, die sich auf Migräne spezialisiert hat und mich versteht. Zusammen mit ihr habe ich Schmerzmittel, Triptane, gefunden, die mir besser helfen als Ibuprofen, das ich jahrelang genommen habe. Ich mache regelmäßig Yoga, versuche, Entspannungseinheiten im Alltag unterzubringen. In letzter Zeit schaffe ich es, regelmäßig zu joggen. Das macht mir wenig Spaß, aber es hilft. In guten Monaten habe ich drei Migränetage. Oder freue mich über eine längere Phase ohne Kopfschmerzen.

Migräne annehmen und verstehen

Erst spät habe ich begriffen, was mir am meisten hilft: Akzeptanz. Ich frage mich nicht mehr, warum gerade ich Migräne ­habe. Meine Wut und mein Trotz bringen mir nicht mehr schmerzfreie Tage. Die Mi­gräne gehört zu mir, sie ist meine Begleiterin, ob ich das will oder nicht. Ich kann sie zähmen und in ihre Schranken weisen, mal besser, mal schlechter – auch das ist normal. Ganz loswerden werde ich sie wohl nicht. Migräne ist nicht heilbar. Der Weg zur Akzeptanz sei auch ein Trauerprozess, sagt Clarissa Verschoof: „Anzunehmen, dass man das Leben ein Stück weit anders gestalten muss, als man sich das gewünscht hat. Aber auch Gefühle wie Wut oder ­Trauer zuzulassen.“ Es ist ein Prozess, der sich lohnt, finde ich. Heute versuche ich, die Migräne auch als Warnsignal meines Gehirns zu sehen. Als Aufforderung, mich wieder besser um mich zu kümmern. Ich kann diese Signale mittlerweile besser lesen. Eine plötzliche Müdigkeit ist zum Beispiel ein Zeichen dafür, dass mein Gehirn gerade zu viel Input bekommt. Manchmal gelingt es mir dann sogar, mich zurückzuziehen, mich auszuruhen und neue Energie zu tanken. Den tropfenden Wasserhahn kann ich reparieren. Die laute Party früher verlassen. Vielleicht kann ich damit sogar die nächste Attacke abwenden.

Meine erste Attacke ist lange her, 25 Jahre werden es bald. Mehr als mein halbes Leben lang lebe ich nun mit meiner Migräne. Sie hat sich verändert über die Jahre. Die schlimmen Attacken, in denen ich mir den Kopf abreißen möchte, sind seltener geworden. Und eintauschen möchte ich mein Migräne-Gehirn auch nicht – dafür kenne ich es jetzt viel zu gut.

Reizüberflutung

Bei Migräne reagiert das Gehirn besonders sensibel auf Reize von außen, kann sie schlecht ausblenden oder filtern. Weniger Anteil am Entstehen einer Attacke haben die sogenannten Trigger. Sie sind meist Vorboten des Kopfschmerzes, nicht der Auslöser.

Migräne mit Aura

Etwa 15 bis 25 Prozent der Migräne-
Be­troffenen erleben vor der Attacke
neuro­logische Störungen, Aura genannt. Sie sehen zum ­Beispiel blendende Kreise oder Blitz­lichter. Auch Gefühls­störungen wie Kribbeln oder Taubheit sind möglich.

Rückzug und Ruhe

Während einer Attacke ist oft nichts mehr möglich, außer im abgedunkelten Zimmer zu liegen. So können auch Schmerzmittel am besten wirken. Manchen hilft zusätzlich ein Augenkissen. Anderen ein Kühlpack dort,
wo der Schmerz am stärksten pulsiert.


Quellen:

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. Online: https://register.awmf.org/... (Abgerufen am 09.12.2022)
  • Göbel, H et al: Gesundheitsverhalten von Migräne- und Kopfschmerz- patienten bei digitaler Therapie- begleitung mit der Migräne-App. Online: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 09.12.2022)
  • Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft: Entspannungsverfahren und verhaltenstherapeutische Interventionen zur Behandlung der Migräne. Online: https://www.dmkg.de/... (Abgerufen am 09.12.2022)
  • Karimi, L et al: The Migraine-Anxiety Comorbidity Among Migraineurs: A Systematic Review. In: Online: 18.01.2021, https://doi.org/...
  • Katsarava, Z et al: Defining the Differences Between Episodic Migraine and Chronic Migraine. Online: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 12.12.2022)