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Ende des 18. Jahrhunderts: Das Dreigestirn der ärztlichen Heilkunst besteht noch immer aus Abführen, Erbrechen und Aderlass. Bei allen möglichen Leiden ritzen Mediziner die Armvene der Kranken an und lassen sie bluten. Bis einer von ihnen gegen die eigene Zunft zu Felde zieht: Krankheit, so urteilt er, ­könne man nicht beseitigen, indem man sie dem „siechen Körper abzapft, wie man aus Fässern schmutzige Feuchtigkeit aus dem Zapfloche laufen lässt. Ekel-Kur, Entzündung, Eiterung, glühendes Eisen“ – mit dieser „Unheilkunst“ habe die Medizin „wohl einer zehnmal größeren Anzahl von Menschen das Lebensziel verkürzt, als es je die verderblichsten Kriege getan“.

So schreibt der streitbare Arzt Samuel Hahnemann (1755–1843) in seinem Hauptwerk, dem „Organon der Heilkunst“ (1810), in dem er seine eigene Methode entwickelt. Er nennt sie Homöopathie. Heilung, so glaubt Hahnemann erkannt zu haben, erzielt man durch Arzneien, die beim Gesunden ähnliche Beschwerden hervorrufen, wie sie der Kranke beklagt. Die eingesetzten Substanzen verabreicht er stark verdünnt. Zeit seines Lebens führt Hahnemann Krieg gegen die „Schulmedizin“, schart bald aber auch Jünger um sich, die seine Methode bis in die Gegenwart weitertragen. Als klassische Form gilt noch immer die Homöopathie nach Hahnemann.

Die Entwicklung der wissenschaftlich basierten Medizin ist ein noch immerwährender Prozess. Zahllose Forscherinnen und Forscher haben mit kleinen und großen Erkenntnissen daran mitgewirkt. Manchen brachte eine wegweisende Neuerung sogar den Nobelpreis. Doch selbst ihre Namen kennen oft nur Fachleute.

Daneben stehen Einzelkämpfer wie Hahnemann, die noch heute fast jeder medizinisch interessierte Laie kennt. Professor Axel Helmstädter, Pharmaziehistoriker an der Universität Marburg, spricht von „solitären Erfinderpersönlichkeiten“.

Nach einem Erweckungserlebnis glauben sie den Schlüssel zu einer Heilmethode in Händen zu halten und widmen sich in ihrem verbleibenden Leben deren Verbreitung. „Auch nur ansatzweise hinterfragt wird die Behandlungsweise in der Regel dann nicht mehr“, sagt Helmstädter.

Da die Methoden von der etablierten Medizin zudem meist nicht akzeptiert wurden, mussten ihre Begründer sie auf anderem Weg an den Mann oder die Frau bringen. „Das geschieht in der Regel durch die Gründung von Vereinen und Laienzeitschriften“, erklärt Helmstädter. So hatte der Biochemische Verein, in dem sich Anhänger von Wilhelm Heinrich Schüßler (1821–1898), Entwickler der Schüßler-Salze, zusammengefunden hatten, zeitweise an die 200 000 Mitglieder. Doch was trieb diese Individualisten der Heilkunde an?

Nicht alle, die einen medizinischen Sonderweg einschlugen, waren Mediziner wie Hahnemann. „Es gab darunter auch viele Laienheiler“, berichtet der Stuttgarter Medizinhistoriker Professor Robert Jütte. Was ­alle einte: Sie waren von der Medizin ihrer Zeit enttäuscht. Bekannt ist diese zur Zeit Hahnemanns und noch darüber hinaus als „heroische Medizin“. Nicht weil die Ärzte jener Zeit Heldentaten vollbrachten. „Die Kranken mussten heldenhaft sein, um die Therapien durchzustehen“, erklärt Jütte. Das Bedürfnis nach alternativen Ansätzen erscheint daher mehr als verständlich. Manchmal kam der Anstoß dabei sogar aus der Wissenschaft selbst. Wie bei einem Arzt, dessen Erfolge ihn zu einem Popstar der Heilkunde machten.

Es war die Zeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, die magisch anmuteten. Gravitation, Elektrizität und Magnetismus offenbarten verborgene Kräfte der Natur. Da entwickelte der vom Bodensee stammende Franz Anton Mesmer (1734–1815) die Lehre vom „animalischen Magnetismus“. Inspiriert durch Magnetkuren, die damals bereits en vogue waren, begann er ebenfalls mit Magneten zu therapieren.

Bald bemerkte Mesmer, dass er diese für die erwünschten Effekte nicht brauchte. „Seine Hände genügten“, beschreibt Jütte. Der Arzt entwickelte die Theorie eines Fluidums, das im Körper jedes Lebewesens zirkuliere und dessen Blockaden zu Krankheiten führen sollten. Ein begabter Magnetiseur – wie er selbst – konnte diese beseitigen.

In Wien, später dann in Paris, avancierte Mesmer zu einer Berühmtheit. Er behandelte nicht nur Einzelpersonen, sondern hielt Gruppen-Séancen ab, in denen er ­viele Menschen gleichzeitig „magnetisierte“, ­etwa mithilfe einer Wanne. Die Heilzeremonie wurde von Klängen der Glasharmonika untermalt, Mesmer schritt als moderner Medizinmann in violetter Robe umher und berührte mit seinen Händen die Hilfesuchenden, darunter überwiegend Frauen. „Manchmal wünschte man sich, die heutigen Ärzte hätten etwas mehr von seinem Charisma“, sagt Medizinhistoriker Jütte und lacht. Während der Behandlung kam es oft zu „Krisen“, die für die Heilung durchaus förderlich sein sollten. Menschen begannen zu schreien, zu krampfen, fielen in Ohnmacht, bissen sich in die Hand.

Der Mesmerismus wurde zum Hype, der in viele Teile Europas schwappte. Der Ärzteschaft wurde Mesmers Treiben indes bald zu bunt. Der französische König selbst rief schließlich eine Untersuchungskommission ins Leben, deren Vorsitz der amerikanische Diplomat Benjamin Franklin innehatte. Das Ergebnis: Magnetisierung wirkt. Aber nur dann, wenn die Menschen glauben, sie würden magnetisiert. Die Folgerung: alles ein Werk der Einbildungskraft. Der Mesmerismus war damit aber keineswegs tot. Noch heute gibt es Heiler, die sich darauf berufen. Geblieben ist zudem das englische Verb „to mesmerise“, was „verzaubern“ oder „hypnotisieren“ bedeutet.

Wie Mesmer, der sich durch die offenkundigen Effekte seiner Methode bestätigt sah, gingen viele Individualisten der Heilkunde von der Erfahrung aus. Damals keineswegs selbstverständlich. Die Ausbildung der Ärzte war rein theoretisch, die Grundlagen stammten noch aus der Antike. „Man beschäftigte sich mit Galen und Hippokrates, aber nicht mit den Patientinnen und Patienten“, beschreibt Helmstädter.

Anders die medizinischen Abweichler: Am Anfang eines therapeutischen Sonderwegs standen oft Selbstversuche, wie der berühmt gewordene Selbsttest Hahnemanns mit Chinarinde. Diese wurde damals vor allem gegen Malaria eingesetzt. Im Selbstversuch löste sie bei Hahnemann ähnliche Beschwerden aus wie das „Wechselfieber“, das er selbst durchgemacht hatte. So kam er auf das Ähnlichkeitsprinzip, bis heute die Grundlage der Homöopathie. Teils gaben den Impuls zu einer neuen Therapierichtung auch spektakuläre Heiler­folge – nicht selten erlebt am eigenen Leib. Wie bei einem jungen Mann, den man bald den „Wasserdoktor“ nennen sollte.

1849, Winter im oberschwäbischen Dillingen. Ein junger Theologiestudent geht ins Wasser. Seit Monaten ist er schwer lungenkrank, leidet wohl an der Schwindsucht, wie man damals die Tuberkulose nannte. Kein Arzt konnte ihm helfen. In der eiskalten Donau sucht er aber nicht den Tod. Er sucht Heilung. Und findet sie.

Die Selbsttherapie des jungen Sebastian Kneipp wurde zur Legende. Dabei verlief auch sein Weg zum berühmten „Dr. Hydrophilus“, zum Wasserheiler, nicht ohne Widerstände. Mehrfach wurde er wegen Kurpfuscherei angezeigt. Denn die Ausübung der Heilkunde lag in seiner Zeit streng bewacht in der Hand der Ärzteschaft. Auch die katholische Kirche beäugte das Treiben ihres heilkundigen Hirten mit Argwohn und versetzte Kneipp als Beichtvater eines kleinen Dominikanerklosters in das Bauern­kaff Bad Wörishofen.

Aber Kneipp ließ von seiner Mission nicht ab. Hilfesuchende behandelt er mit Gießkanne und Gartenschlauch im kleinen Bade­raum des Klosters. Der Pilgerstrom wuchs rasch. Bad Wörishofen mauserte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum Weltkurort. Als Prophet der Wasserkur und der gesunden Lebensführung bereiste Kneipp fast ganz Europa. Noch heute genügt eisiges Wasser, das nackte Beine umspült – und jeder denkt an Kneipp.

Mehr Zulauf denn je haben auch die Kurkliniken in Überlingen am Bodensee, die die Familie Buchinger Wilhelmi schon in vierter Generation führt. Am Anfang stand die Selbstheilung ihres Gründers Otto Buchinger (1878-1966). Sie war ein wichtiger Anstoß für das Wiederaufleben einer Therapie, die früher zum menschlichen Leben gehörte: zeitweiliger Nahrungsverzicht. Waren Zeiten der Lebensmittelknappheit einst fast unvermeidbar, entdeckte die naturheilkundliche Medizin im 19. Jahrhundert das Fasten neu.

„Buchinger erfuhr seine Wirkungen am eigenen Leib“, beschreibt Dr. Françoise Wilhelmi de Toledo, Leiterin der Forschungsabteilung der Fastenkliniken Buchinger Wilhelmi. Von der Seefahrt hatte Marinearzt Buchinger als Vollinvalide Abschied nehmen müssen. Rheuma machte ihn fast bewegungsunfähig. Da die Medizin seiner Zeit hilflos war, entschloss er sich zu einem unkonventionellen Therapieversuch: Buchinger absolvierte eine Fastenkur. „In 19 Tagen wandelte sich seine komplette Existenz“, beschreibt Wilhelmi de Toledo. Der Arzt fand seine Gesundheit wieder – und seine ärztliche Mission: Fasten als Therapie. Er gründete seine eigene Klinik, entwickelte die Methode weiter und ergänzte sie um Komponenten, die die Gesundung der Seele im Blick hatten: Literatur, Musik, Wanderungen in der Natur, innere Einkehr. Daneben kämpfte auch er gegen heftige Attacken der Ärzteschaft. „Die Resilienz all dieser Persönlichkeiten ist erstaunlich“, sagt Medizinhistoriker ­Jütte. Sie gingen ihren Weg, aus Überzeugung – und manchmal auch Trotz.

Nicht nur für das Heilfasten nach Buchinger führte dieser Weg bis in die Gegenwart. Doch können die Methoden aus wissenschaftlicher Sicht standhalten? In der Medizingeschichte nimmt Hahnemann einen wichtigen Platz ein. „Er hat in vieler Hinsicht weitergedacht“, sagt Jütte. So gilt er nicht nur als kritischer Kopf, der die fatalen Wirkungen vieler damals üblicher Methoden erkannte – und benannte. „Er führte in seiner Praxis auch einfach verblindete Placebo-Versuche durch“, sagt Jütte. Die Patientinnen und Patienten erhielten im Wechsel mit homöopathischen Mitteln ein wirkungsloses Scheinmedikament aus Milchzucker, ohne dies zu wissen.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht muss Hahnemanns Methode heute freilich selbst als ein Superplacebo gelten. „Was nicht heißt, dass sie nicht wirkt“, betont Jütte. Von dem starken Effekt von Erwartung, Suggestion und ärztlichem Ritual, von dem auch die moderne Medizin nicht frei ist, zeugen auch die magnetischen Kuren Mesmers, der unter anderem als einer der Wegbereiter der Hypnose-Therapie gilt. Auch die Wasserkur ist nicht von gestern. In der wissenschaftlich orientierten Naturheilkunde gelten die Kneippschen Methoden, zu denen auch gesunde Ernährung gehört, als unverzichtbarer Bestandteil der Therapie.

Einen Volltreffer landeten die frühen Fastenmediziner wie Buchinger. In den vergangenen Jahren ist die Forschung dazu geradezu explodiert – und liefert ständig neue, erstaunliche Erkenntnisse. Die Wissenschaft lernt immer mehr darüber, was im Körper bei Nahrungsentzug passiert. Der Energiestoffwechsel stellt nicht nur von Zucker auf
einen anderen Brennstoff um: die Ketonkörper. „Gene werden ab- und angeschaltet“, erklärt Wilhelmi de Toledo. Viele positive Effekte kann man heute gut erklären. So dämpft Fasten Entzündungen und beeinflusst den Zuckerstoffwechsel günstig. Mit der Autophagie wirft der Körper einen Mechanismus an, durch den Zellmüll beseitigt wird. „Es kommt zu einer Verjüngung des Gewebes“, sagt Wilhelmi de Toledo. Inzwischen ist Fasten ein fester Bestandteil der modernen Ernährungs- und Anti-Aging-Medizin.


Quellen:

  • Originalgetreuer Nachdruck der 6. Auflage des Organon der Heilkunst von 1921

  • gebundene Ausgabe

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