Logo der Apotheken Umschau

Spricht hier jemand Deutsch?“ Es kommt schon mal vor, dass Katja Linden das in die Runde der wartenden Kundinnen und Kunden fragt, während an den Handverkaufstischen der Apotheke in den verschiedensten Sprachen geredet wird. Ihre Apotheke in der Stuttgarter Innenstadt zieht ein buntes Publikum an. „Unsere Lage erfordert es, dass wir kulturell breit aufgestellt sind“, sagt Pharmazeutin Linden. Gemeinsam mit ihrer Schwester beschäftigt sie ein 15-köpfiges Team, in dem die wenigsten Mitarbeitenden die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Aus Serbien, Italien, Ägypten und Mazedonien kämen sie, zählt die 56-Jährige auf, aus Griechenland, Marokko, Russland.

Für Katja Linden ist Multikulti im Herzen einer Großstadt schlicht Realität: Eine russische Ärztin arbeitet in der Nähe, eine ­arabische und eine serbische Praxis gibt es in der City – unter anderem. Wer gut ­kooperieren wolle, müsse kulturell auf­geschlossen sein, so Linden. Sie kennt es von Kindesbeinen an nicht anders. Bereits ihre ­Eltern und auch der Opa waren Apotheker. Für die betriebliche Weihnachtsfeier in ein schwäbisches Lokal? Das wäre schon ­damals wegen der muslimischen Mitarbeitenden undenkbar gewesen, schmunzelt Linden, „zu fleischlastig“.

Sie erinnert sich, wie sie oft nach der Schule am elterlichen Arbeitsplatz vorbeischaute. Pita, die griechische Teigtasche, bekam sie angeboten oder Baklava, ein honigsüßes Gebäck aus der türkischen Küche. „Linsen und Spätzle mit Saiten, das isst man nur hier bei uns in Schwaben“, wusste sie früh. Die Offenheit der Familie gegenüber anderen Kulturen beschränkte sich nicht nur aufs Berufliche. Auch privat kamen mehrfach Mitarbeitende, die gerade aus der Fremde angereist waren, bei der ­Familie unter. Bis in Stuttgart Wohnraum gefunden war.

Hört man Katja Linden reden, könnte man meinen, die Zusammensetzung ihres heutigen Teams sei gewollt. Tatsächlich aber ist die Situation auch den Umständen geschuldet. „Wir bekommen kaum deutsche Bewerbungen“, berichtet die Apothekerin. Wenn, dann oft nur in Kombination mit Forderungen: von „keine Nachtdienste“ bis hin zu „Extra-Pausen“. Dabei könnten alle profitieren, wenn eine gewisse Beweglichkeit herrsche.

Die herrscht an diesem Mittwochvormittag definitiv. Zum x-ten Mal wird die 24-jährige Pharmazeutin Veronica Gojan gerade von der Rezeptur in den Verkaufsraum gerufen, schließlich ist sie heute die einzige Mitarbeitende, die Russisch kann. Zum x-ten Mal machen die Kolleginnen dann in der Rezeptur dort weiter, wo Gojan aufgehört hat. „Wir geben in jeder Situation unser Bestes und behelfen uns bei sprachlichen Barrieren im Kundenkontakt zur Not auch mal mit Händen und Füßen“, erzählt die Angestellte Müsüde Killi. Verkrustete Hie­rar­chien? Ermüdende Routinen? Was die in Stuttgart geborene Türkin, die seit 25 Jahren zum Team der Apotheke gehört, zum Teil von Freundinnen und deren Jobs hört, macht sie nachdenklich. Sie lerne noch immer jeden Tag dazu. „Das ist anstrengend, aber langweilig wird mir nie. Ich liebe ­meinen Job.“

Die Wissenschaft bestätigt den Eindruck der 40-Jährigen. „Kulturelle Vielfalt wirkt sich positiv auf Innovation aus“, fasst Dr. Silke Stahl-Rolf vom VDI Technologie­zentrum die Ergebnisse einer von ihr im Auftrag der Bertelsmann Stiftung geleiteten Studie zusammen. Offenheit für Problemlösungen, der Wille, bekannte Wege zu verlassen, und auch eine höhere Risikobereitschaft scheinen hier unter anderem Einflussfaktoren zu sein.

Was das angeht, kann Katja Linden nur zustimmen: „Natürlich unterbindet man das, wenn Mitarbeitende beginnen, unter­einander in die Muttersprache zu fallen.“ „Deutsch, bitte“, sagt sie dann. Die Sicherheit, die sie durch den Kodex „keine Grüppchenbildung“ gewinnt, bleibt aber begrenzt. Spätestens wenn neben ihr ein Beratungsgespräch auf Serbisch oder Griechisch läuft, hat sie keinen Einblick mehr. „Man muss loslassen können“, sagt Linden.

Ein Selbstläufer freilich ist diese Haltung nicht, wie die Geschichte von Veronica Gojan zeigt. Die junge Apothekerin kam Anfang des Jahres, direkt nach dem Studium, von der Republik Moldau nach Stuttgart. Mit nur rudimentären Deutschkenntnissen – eine riesige Herausforderung. Die Apothekerin weiß noch, wie sie sich einmal mit dem Handy aus einer kniffligen Situation mit einem Kunden zu befreien versuchte: Sie hatte einen deutschen Begriff in den Sprachübersetzer eingegeben, war unter einem Vorwand in einen Nebenraum gegangen. Dabei gilt auch in dieser Apotheke für alle Beschäftigten: Bitte keine Handynutzung in der Arbeitszeit.

Und wie läuft es Monate später? „Alles bestens“, sagt Veronica Gojan, die das Handy nur noch sehr selten zum Übersetzen nutzt – wenn, dann allerdings inzwischen mit offiziellem Okay. Katja Linden, die gemerkt hatte, dass da etwas war, was die neue Mitarbeiterin nicht ansprechen wollte, hatte von sich aus die Initiative ergriffen und das Gespräch gesucht. „In meiner Heimat ist es eher unüblich, so geradeheraus zu sein, daher bin ich von mir aus nicht aktiv geworden“, sagt Veronica Gojan. Und Katja Linden lacht: „Partout bei den Regeln bleiben, das hätte in diesem Fall bedeutet, Engagement zu unterbinden.“ Sowieso ist das, was Gojan an Einsatz bringt, mit Worten kaum zu beschreiben. Auch an diesem Vormittag kommen immer wieder aus der Ukraine geflüchtete Menschen in die Apotheke. Keine drei Wochen nachdem Gojan in Stuttgart angefangen hatte, begann der Krieg. „Meine Muttersprache ist Rumänisch, wegen der russischen Minderheiten kann bei uns aber praktisch jeder Russisch“, sagt sie.

Russisch, Rumänisch, Deutsch – oft muss sie nun hin- und herswitchen. Sprachlich und auch mental, weil die Kulturen so unterschiedlich sind. „Viel kommunizieren, viel spüren“, so fasst Katja Linden zusammen, was es für sie ausmacht, ein interkulturelles Team zu führen. Ein gutes Ohr für das „Zwischen den Zeilen“ brauche man – und die Bereitschaft, auch mal „Handschuhe anzuziehen“. Das sehr Direkte, das bei uns in Deutschland recht üblich sei, könne für andere Nationalitäten ein echtes Problem sein.

Die Gefahr von Missverständnissen und Konflikten in der interkulturellen Zusammenarbeit sei hoch, bestätigt Dr. Marlies Jöllenbeck. Die Gesundheitswissenschaftlerin ist beratend in der Gesundheitsbranche tätig und untersucht gerade im Rahmen einer Studie am Institut für Arbeitsmedizin der Universität Lübeck die interkulturelle Zusammenarbeit in Pflegeteams. Die Fachfrau weiß, wie Konflikte in aller Regel entstehen: „Nämlich eigentlich immer auf der Beziehungs- und so gut wie nie auf der Fachebene.“ Wie leicht es zu Unstimmigkeiten kommen kann, zeigt die gegenläufige Bedeutung des Kopfnickens, das in den meisten Ländern als Bestätigung verstanden wird. In arabischen Ländern, in Griechenland oder der Türkei sagt man auf diese Weise Nein. Während es hierzulande als unhöflich empfunden wird, im Gespräch unterbrochen zu werden, nimmt man das dem Gegenüber in Spanien nicht krumm. Im Gegenteil: Da hört jemand aufmerksam zu, denkt man. Klar: Auf so was muss man erst mal kommen. „Wie war euer Wochen­ende?“ Früher war es für Katja Linden Routine, das montags zu fragen. „Das Wochenende kann allerdings auch unerfreulich gewesen sein“, gibt Apothekerin Jelena Trifunovic, 30, aus Serbien zu bedenken. In ihrer Heimat werde man eher nicht so privat.

Studienergebnisse der Universität Lübeck zeigen: Feedback wird in kollektivistisch geprägten, also „nähebetonten“ Kulturkreisen eher sorgsamer und „indirekter“ verpackt, damit es beim Gegenüber „sozial verträglich“ und wertschätzend ankommt. Umso schwerer haben es internationale Mitarbeitende mitunter mit der deutschen Schnörkellosigkeit. „Geht’s euch gut?“ Mit dieser Frage zum Wochenbeginn fühlt sich Katja Linden jedenfalls auf der sicheren Seite. Die Mitarbeitenden können dann selbst entscheiden: Antworte ich mit einer Floskel? Oder gehe ich, weil es mir ein Anliegen ist, ins Detail? „Wer das eigene Kommunikationsverhalten reflektiert, wird wachsamer, sensibler, feinfühliger“, sagt Marlies Jöllenbeck. Wir Menschen neigen dazu, unser Gegenüber blitzschnell zu bewerten – und können mit so einer Einschätzung auch voll danebenliegen.

Um bei Seminar-Teilnehmenden den Blick für verborgene Prozesse zu schärfen, arbeiten viele interkulturelle Trainerinnen und Trainer mit dem sogenannten Eisberg-Modell. Es geht davon aus, dass jeder von uns bestimmte Vorstellungen und Ideen von Kommunikationsinhalten hat. Doch ein großer Teil dieser Vorstellungen bleibt im Verborgenen. Gerade dort, unter der Wasseroberfläche, geht der Eisberg bekanntlich so richtig in die Breite.

Sicher: Es ist utopisch, alle Facetten eines Gegenübers zu erkennen, auch die, die ganz tief im Wasser sind. Was aber hilft, ist, sich klarzumachen: Was ich sehe, ist erst mal nur die Spitze des Eisbergs. Und auch die andere Seite sieht erst mal nur die Spitze bei mir. Unklarheiten einen Augenblick lang aushalten und verstehen zu wollen, ist für Marlies Jöllenbeck ein wichtiges Merkmal interkultureller Kompetenz. Und wichtig für jede Form der zwischenmenschlichen Kommunikation mit all ihren Herausforderungen – ganz unabhängig von kultureller Prägung.

Manchmal fragt sich Katja Linden, ob sie die Offenheit, mit der sie Neuankömmlingen begegne, auch ohne ihr prägendes Elternhaus hätte. Sie hat weder für sich noch für ihre Mitarbeitenden je ein interkulturelles Training in Erwägung gezogen. Ein Fehler? „Teams, die ein gewisses Problembewusstsein mitbringen und bereit sind, an sich zu arbeiten, kommen oft auch so klar“, sagt Jöllenbeck.

Gleichzeitig rät sie dazu, sich im Zweifel lieber früh Unterstützung zu holen. Nicht nur das Miteinander werde angenehmer. Auch die Kundinnen und Kunden könnten profitieren, wenn interkulturelle Kompetenzen gesteigert würden, ist Gesundheitswissenschaftlerin Jöllenbeck überzeugt.

Für die arabischen Kundinnen und Kunden der Apotheke in Stuttgart scheint das auf jeden Fall zu gelten. „Bei uns in Ägypten hat die Apotheke einen anderen Stellenwert“ – so erlebt es zumindest Amr Shams, der derzeit einzige männliche Mitarbeiter im Team. In seinem Heimatland führe der erste Gang bei Krankheit sehr viel seltener zum Arzt, so der 29-Jährige, der jetzt auch in Stuttgart für zahlreiche arabische Kunden als erste Anlaufstelle bei Beschwerden fungiert. Oft scheint das Gegenüber richtiggehend auf Ratschläge von ihm zu warten. Was, wenn Kolleginnen und Kollegen um diese kulturelle Besonderheit nicht wissen und sich im weiteren Verlauf des Gesprächs vor allem auf die Anwendung eines Medikaments beziehen?

Die Deutschen sind detailverliebt, distanziert und kalt? Was die 30-jährige Jelena Trifunovic in der Heimat gehört hat, kann sie beim besten Willen nicht bestätigen. Als zuverlässig und hilfsbereit beschreibt sie ihre in Deutschland aufgewachsenen Kolleginnen. Das sei die halbe Miete für ein gutes Miteinander, findet ihre Kollegin Müsüde Killi: „Dass wir das Verbindende sehen, nicht beim Trennenden bleiben.“

Wertschätzung, Respekt, darum geht es. Amr Shams zieht sich an jedem Arbeitstag zweimal für fünf Minuten in einen Nebenraum zurück. Zum Beten. Ein früherer Arbeitgeber hat ihm dafür die Pause gekürzt. Katja Linden hingegen sagte: „Mach einfach, als würdest du zur Toilette gehen.“ Und wieso kommt er dann zehn Minuten früher zur Arbeit? Niemand erwartet das. „Respekt kommt nicht, wenn wir Rechnungen begleichen“, sagt Shams. Respekt sei eine Frage der Haltung.