Wechselwirkungen: Eine unterschätzte Gefahr

Die Einnahme unterschiedlich wirkender Medikamente kann negative Folgen nach sich ziehen – wie ein Stau im eigenen Körper.
© W&B/Astrid Zacharias
Montagmorgen, zäh fließender Verkehr auf der Autobahn. Statt 30 Minuten hat man mehr als eine Stunde zur Arbeit gebraucht. Ursache für den Stau: ein Auffahrunfall mit einem Milchlaster. Und was hat das mit Arzneimittel-Wechselwirkungen zu tun? Mehr, als Sie auf den ersten Blick denken. Arzneistoffe können im Körper – wie Autos auf der Straße – im Stau stehen. Oder auf dem Weg zur Wirkungsstätte im Körper verunglücken. Aber ganz von vorn.
Was sind Wechselwirkungen bei Medikamenten?
Der Begriff Wechselwirkung, auch Interaktion genannt, bedeutet, dass sich zwei oder mehrere eingenommene Medikamente gegenseitig im Körper beeinflussen. Das kann die Wirkung eines Arzneimittels verstärken. Die Folge: vermehrte Nebenwirkungen bis hin zur Vergiftung. Oder die Interaktion vermindert den Effekt eines Medikamentes. Das führt im schlimmsten Fall zu Therapieversagen. Jede Arznei, die wirkt, kann wechselwirken. Das Risiko dafür steigt, je mehr Medikamente die Patientin oder der Patient einnimmt. Bei zwei Präparaten liegt das Risiko bei 13 Prozent. Bei sieben eingenommenen Mitteln steigt es sogar auf 80 Prozent.
Die Aufgabe der Leber
Am häufigsten kommt es in der Leber zu Interaktionen. Etwa 30 Prozent der arzneimittelbezogenen Probleme entstehen hier. Sie sind besonders kompliziert zu handhaben. Denn die meisten Arzneimittel passieren die Leber auf ihrem Weg durch den Körper. Dort findet ein chemischer Um- und Abbau von Arzneistoffen statt – mithilfe einer bestimmten Gruppe von Enzymen, den sogenannten Cytochrom-P450-Enzymen. Durch den Umbau kann der Körper die Wirkstoffe besser ausscheiden, etwa im Urin oder in der Gallenflüssigkeit.
Leider können manche Medikamente, zum Beispiel das Antibiotikum Erythromycin, einzelne Leberenzyme in ihrer Arbeit hemmen. Blutdrucksenker wie Nifedipin oder Cholesterinsenker wie Simvastatin, die für ihren Abbau genau dieses gehemmte Enzym brauchen, stehen dann im Stau. Und zwar so lange, bis das betreffende Enzym seine Arbeit wieder aufnimmt. Das kann dauern! In manchen Fällen mehrere Tage. Diese Medikamente wirken dadurch länger und stärker als gewünscht. Nebenwirkungen können stärker und häufiger auftreten, schlimmstenfalls sind sie lebensbedrohlich.
Den umgekehrten Fall gibt es auch. Ein Wirkstoff A erhöht die Menge an Enzymen, die für den Abbau des Medikaments B nötig sind. Deshalb rast das Medikament B ungebremst durch die Leber und wird zu schnell abgebaut. Die Heilpflanze Johanniskraut, die bei milden depressiven Verstimmungen helfen kann, ist ein Beispiel für Wirkstoff A. Sie führt zu einen schnelleren Abbau von Medikamenten wie Simvastatin oder dem Asthma-Mittel Theophyllin. Dadurch wirken diese Medikamente schwächer als normal.
Wechselwirkungen vermeiden
Die Lösung? Ist sehr individuell. „Manchmal reicht die zeitversetzte Einnahme zweier Präparate. Eins morgens, eins mittags. In anderen Fällen wird die Dosis der Medikamente angepasst oder deren Konzentration im Blut engmaschig kontrolliert“, sagt Dr. Miriam Ude, Fachapothekerin für Arzneimittelinformation aus Darmstadt. „Bei gefährlichen Wechselwirkungen reicht das jedoch nicht aus. Da muss die Ärztin oder der Arzt ein alternatives Medikament für die Beschwerden verschreiben“, so die Expertin.
In Deutschland sind laut dem Arzneimittelverzeichnis „Rote Liste“ circa 2000 Wirkstoffe zugelassen. Niemand kann alle möglichen Wechselwirkungen kennen. So wie das Navigationssystem das Autofahren einfacher machen soll, gibt es in der Arzneimitteltherapie sogenannte Interaktionsdatenbanken. Sie warnen, wenn Kombinationen in der Praxis verordnet oder der Apotheke abgegeben werden, die nicht zueinanderpassen.
Kingt wie eine sichere Sache – wenn nur Medikamente wechselwirken würden. „Die Enzyme in der Leber sind auch damit beschäftigt, Nahrungs- und Genussmittel sowie pflanzliche Präparate zu verarbeiten. Auch die können mit Arzneimitteln wechselwirken“, erklärt Ude. Oder Wechselwirkungen verursachen, bevor sie überhaupt in die Leber gelangen. Etwa Präparate mit Kalzium oder Magnesium. Sie werden sowohl in Apotheken als auch in Drogerien verkauft – und die Mineralstoffe sind auch in Kautabletten gegen Sodbrennen enthalten. „Was viele nicht wissen: Diese haben ein sehr hohes Wechselwirkungspotenzial. Sie bilden mit einigen Wirkstoffen schwer lösliche Verbindungen im Magen“, sagt Ude.
Der große Stau im Körper
Diese Arzneistoff-Klumpen kann man sich vorstellen wie ineinander verkeilte Autos nach einem Unfall. Ergebnis: Die Autos sind nicht mehr fahrtüchtig. Auf Medikamente bezogen bedeutet das: Sie wirken deutlich schwächer. Denn nur in gelöster Form werden Wirkstoffe in den Dünndarm aufgenommen. Von dort aus geht es in der Blutbahn durch die Leber zum Einsatzort. Antibiotika wie Ciprofloxacin oder Tetrazyklin vertragen sich etwa nicht mit den Mineralstoffen. Und: „Auch Milch und Milchprodukte wie Quark, Joghurt oder Käse enthalten Kalzium. Diese bilden ebenso Komplexe mit manchen Arzneimitteln“, erklärt Dr. Julia Podlogar, Leiterin der Abteilung für Arzneimittelinformation bei der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. Verhindern lassen sich diese Interaktionen durch eine versetzte Einnahme von 30 bis 60 Minuten.
Auch Tee oder Kaffee eignen sich nicht, um Medikamente einzunehmen. Die darin enthaltenen Gerbstoffe können die Aufnahme von Wirkstoffen verringern, etwa von einigen Psychopharmaka. „Es ist durchaus vorstellbar, dass das Versagen einer antidepressiven Therapie auf die allmorgendliche Einnahme der Tablette mit Schwarztee zurückzuführen ist“, sagt Podlogar. Generell gilt: Arzneien mit einem großen Glas kalziumarmem Wasser einnehmen.
Um bei einer chronischen Schmerztherapie Schäden der Magenschleimhaut zu vermeiden, greifen viele Menschen zu Säureblockern, etwa Pantoprazol. Diese erhöhen den pH-Wert im Magen – sie machen das Milieu im Magen weniger sauer. Aber beispielsweise Pilzmittel lösen sich nur in diesem sauren Milieu gut auf. Nimmt man sie zusätzlich zu Säureblockern ein, werden sie nicht ausreichend zersetzt. Es erfolgt keine Aufnahme im Dünndarm und die Mittel verpassen die Auffahrt Richtung Leber. Die Konsequenz: Der Effekt der Pilzmittel fällt geringer aus. Die bisher genannten Interaktionen entstehen, weil Eingenommenes miteinander verklumpt oder der Abbau in der Leber gestört wird.
Ähnliche Wirkung, kein Problem?
Ein anderes Problem tritt auf, wenn man Arzneien und Nahrungs- oder Genussmittel mit gleicher Wirkung oder Nebenwirkung zusammen einnimmt. „Manche Allergietabletten können ein bisschen müde machen. Trinkt man dazu ein Glas Sekt, weil etwa jemand auf der Arbeit Geburtstag hat, kann das ebenfalls müde machen. Zusammen kann dann eine Müdigkeit entstehen, die man so nicht erwartet hätte“, so Podlogar. Reaktionszeiten können sich verlängern, was besonders hinter dem Steuer gefährlich ist.
Wichtig ist das Bewusstsein dafür, dass es arzneimittelbezogene Probleme geben kann. Und das Wissen, dass Sie selbst etwas dagegen tun können. Miriam Ude empfiehlt: „Notieren Sie auf Ihrem Medikationsplan auch rezeptfreie Präparate, etwa Schmerzmittel oder Mineralstoffe. Ist der Plan beim Arztbesuch oder in der Apotheke dabei, fällt leichter auf, wenn etwas nicht zusammenpasst.“ Unser Tipp: Fragen Sie aktiv beim Kauf von rezeptfreien Präparaten nach möglichen Wechselwirkungen.
Quellen:
- 1. Geisslinger G, Menzel S.: Wenn Arzneimittel wechselwirken. In: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stutggart 01.01.2017, 1: 1-62
- 2. Smollich M, Podlogar J. : Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln. In: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 2. Auflage 01.01.2020, 1: 1-46
- Pro Farma: Kalziumgehalt von Mineralwasser . online: https://www.ksa.ch/... (Abgerufen am 12.05.2023)
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