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Selbst die Bild-Zeitung witterte eine pharmazeutische Sensation: „Blutdruckmittel lässt Haare sprießen“ lautet im Jahr 1986 eine Schlagzeile in Deutschlands größtem Boulevardblatt. Aber ist das möglich? Kann ein Mittel, das die Blutgefäße weitet, wirklich wieder einen vollen Haarschopf zaubern?

Blutdrucksenker als Haarwuchsmittel

Als die Pharmaforschung 1977 den Wirkstoff Minoxidil testete, hatte dieser schon eine Schlappe hinnehmen müssen. „Entwickelt wurde er gegen Magengeschwüre“, sagt Prof. Dr. Axel Helmstädter, Pharmaziehistoriker aus Marburg. Doch im Versuch floppte das Mittel. Dabei zeigte sich allerdings eine positive Wirkung bei zu hohem Blutdruck. Diesmal verliefen die Tests wie gewünscht. Doch was war das?

Soll der Blutdruck nach unten, gibt es deutlich bessere Medikamente als Minoxidil. Die Nebenwirkung ist das Verkaufsargument: Auf die Kopfhaut aufgetragen bringt es Haare zum Sprießen.

Soll der Blutdruck nach unten, gibt es deutlich bessere Medikamente als Minoxidil. Die Nebenwirkung ist das Verkaufsargument: Auf die Kopfhaut aufgetragen bringt es Haare zum Sprießen.

Einige Wochen nachdem sie mit der Einnahme begonnen hatten, zeigte sich bei vielen Patientinnen und Patienten ein Haarflaum. Zuerst nur an Stirn und Schläfen, dann am ganzen Körper. Während die Testpersonen zum Rasierschaum griffen, witterten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Vermarktungschance: War Minoxidil vielleicht eine Wunderwaffe gegen sich lichtendes Kopfhaar? In groß angelegten Versuchsreihen begossen amerikanische Männer ihre Kopfhaut regelmäßig mit einer Minoxidil-Lösung. Im Jahr 1988 wurde der Blutdrucksenker in den USA offiziell gegen Haarausfall zugelassen – als erstes Medikament überhaupt. Bei Geheimratsecken und schütterem Haupthaar leistet Minoxidil seither gute Dienste. „Die verbesserte Durchblutung der Kopfhaut regt auch das Haarwachstum an“, sagt Helmstädter.

Dass ein Blutdrucksenker als Haarwuchsmittel zum Verkaufsschlager wird, mag überraschen. „Die Geschichte ist aber kein Einzelfall“, sagt Dr. Barbara Spohrer, Apothekerin aus Freiberg. Für ihre Doktorarbeit „Die Beobachtung am Krankenbett“ hat sie zahlreiche Fälle gesammelt, in denen Medikamente eine zweite Karriere starteten. Doch wie kann das sein?

Aspirin als Blutgerinnungshemmer

Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen. So lautet ein altbekannter Grundsatz der Arzneimittelforschung. Was Hauptwirkung ist und was nur Begleiterscheinung, ist letztlich aber eine Frage der Sichtweise. Bei genauerem Hinsehen können sich unerwünschte Phänomene als segensreich entpuppen – wenn man sie gezielt einsetzt. Heute arbeiten in Pharmafirmen ganze Forschungsabteilungen daran, neue Wirkungen alter Wirkstoffe auszuloten. „In der Vergangenheit half bei der Entdeckung meist der Zufall“, so Spohrer.

Beispiele gibt es viele. So dauerte es Jahrzehnte, bis eines der wohl bekanntesten Medikamente der Welt reif war, seine Zweitkarriere zu starten: ASS, besser bekannt unter seinem Handelsnamen Aspirin, wirkt bekanntlich gegen Entzündungen und Schmerzen. „Dass man nach der Einnahme von ASS leichter blaue Flecken bekommt und auch ein Schnitt im Finger länger blutet, kann jeder selbst beobachten“, sagt Spohrer. Denn ASS hemmt auch die Blutgerinnung. Das ließ sich nutzen: In niedriger Dosis hilft ASS heute stark gefährdeten Personen, einem Schlaganfall oder Herzinfarkt vorzubeugen.

Contergan gegen Geschwüre

Purer Zufall offenbarte auch bei einem alten Blutdrucksenker eine spektakuläre Nebenwirkung. Eine französische Ärztin behandelte im Jahr 2008 einen Säugling, in dessen Gesicht ein großer Tumor wuchs: ein Hämangiom, auch Blutschwämmchen genannt. Durch die Therapie hatte das Baby eine Herzkrankheit entwickelt und erhielt daher den Betablocker Propranolol. Kurze Zeit später geschah ein kleines Wunder: Die blutrote Geschwulst war so gut wie verschwunden. Inzwischen hat Propranolol zahllose Babys von den auffälligen Malen befreit.

Eine völlig unerwartete Wirkung zeigte der Blutdrucksenker Propranolol: Blutschwämme bei Babys verschwanden.

Eine völlig unerwartete Wirkung zeigte der Blutdrucksenker Propranolol: Blutschwämme bei Babys verschwanden.

Überraschend sind auch die heilsamen Nebenwirkungen eines Medikaments, dessen Name untrennbar mit einem der größten Medizinskandale der Geschichte verbunden ist. Kinder von Müttern, die während ihrer Schwangerschaft in den 1950ern das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid einnahmen, hatten oft schwere Missbildungen. Was kaum jemand weiß: Thalidomid rettet heute Leben. „Die Entdeckung machte ein Arzt in Jerusalem – durch Zufall“, erzählt Spohrer. Er verabreichte im Jahr 1964 einer Frau mit schmerzhaften Leprageschwüren das vom Markt genommene Schlafmittel Contergan. Mit überraschender Wirkung. Die schmerzenden Geschwüre verschwanden. Und nicht nur das: Thalidomid wird auch bei einer bestimmten Art von Knochenmarkkrebs eingesetzt, dem Multiplen Myelom.

Recycling im Körper

Aber wie kann es sein, dass ein Schmerzmittel Schlaganfällen vorbeugt? Warum heilt ein Schlafmittel Krebs? Wer nicht gerade Pharmazie studiert hat, den dürften solche Doppeleffekte verwundern. Ein Grund dafür liegt in der Funktionsweise unseres Körpers: Auch er neigt zum Recycling, zur Mehrfachverwendung. „Ein gutes Beispiel sind die Hormone“, erklärt Pharmazeut Helmstädter. Ihre Botschaften übermitteln sie, indem sie an eine Art Antennen andocken, sogenannte Rezeptoren. Je nachdem, in welchem Organ diese sitzen, kann es zu völlig verschiedenen Effekten kommen.

So lässt Adrenalin das Herz schneller schlagen, weitet aber auch die Bronchien. Mittel wie Cortison, die im Körper wie Hormone wirken, führen daher oft zu einem Strauß von Wirkungen – und leider auch Nebenwirkungen. „Man kann sich Wirkstoffe zudem wie Schlüssel vorstellen, die in bestimmte Schlösser passen“, erklärt Helmstädter. Sie können diese öffnen, schließen oder auch für andere Schlüssel blockieren. Manchmal klappt das auch, wenn der Schlüssel nicht exakt passt: „Wie bei einem alten Bauernschrank.“ Dann kommt es zu Phänomenen, die selbst Expertinnen und Experten überraschen.

Herzmittel als Potenzpille

Fast schon eine Legende ist die Entdeckung einer Nebenwirkung eines angehenden Herzmittels. Start für eine einzigartige Karriere. Von dem Wirkstoff mit der Bezeichnung UK-92,480 wusste man, dass er die Blutgefäße weitet. Als Blutdrucksenker war er dennoch unbrauchbar. „Man entschied sich für eine sogenannte Um­profilierung“, erzählt Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz, Pharmakologe an der Goethe-Universität Frankfurt. Könnte der Wirkstoff, der den Namen Sildenafil erhielt, vielleicht bei Angina Pectoris helfen, Brustschmerzen bei krankhaft verengten Herzkranzgefäßen?

Als Blutdrucksenker und Herzmittel fiel der Wirkstoff Sildenafil durch. Doch er zeigte einen erstaunlich positiven Effekt auf die Manneskraft – und auf Schnittblumen.

Als Blutdrucksenker und Herzmittel fiel der Wirkstoff Sildenafil durch. Doch er zeigte einen erstaunlich positiven Effekt auf die Manneskraft – und auf Schnittblumen.

Auch hier enttäuschte das Mittel. Keineswegs enttäuscht zeigten sich indes die männlichen Probanden, an denen die Verträglichkeit getestet wurde. „Bei der Prüfärztin gingen Anfragen von Männern ein, die mehr von dem Mittel haben wollten“, erzählt Schubert-Zsilavecz. Selbst zu Diebstählen soll es gekommen sein. Der Grund: Das Mittel hatte einen ungeahnt ­positiven Effekt auf die Manneskraft. Als Potenzpille Viagra – das Sanskrit-Wort für Tiger – startete Sildenafil eine steile Karriere. Vor genau 25 Jahren. „Nach sechs Wochen war der Name so bekannt wie Coca-Cola“, sagt Schubert-Zsilavecz.

Was dagegen kaum jemand weiß: Sildenafil verlängert auch Leben. Einige Jahre nach der Markteinführung entdeckte man einen positiven Effekt bei einer Krankheit, die zuvor meist innerhalb weniger Jahre tödlich verlief: Lungenhochdruck. Dabei ist der Blutdruck in den Lungenarterien krankhaft erhöht. Geändert wurden nur Farbe, Form und Dosierung des Mittels. Als Potenzpille ist es rautenförmig und blau, als Lungenmedikament weiß und rund. Und Viagra kann noch mehr: Es sorgt nicht nur beim Mann für mehr Standfestigkeit, sondern hält auch Schnittblumen frisch. In Tests standen diese deutlich länger aufrecht, wenn man ihnen ein paar Krümel Sildenafil ins Wasser gab. Eine blaue Pille reicht dabei für etwa hundert Sträuße.

Mehrfachwirkung nicht ungewöhnlich

Heute sind solche Zufallserfolge eher selten. Forschende suchen mittlerweile ­systematisch nach Zweitkarrieren von Wirkstoffen. Möglich macht dies vor allem der technologische Fortschritt der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Zudem ist inzwischen teils bis ins Detail bekannt, wie ein Medikament wirkt, also wo genau im Körper der Wirkstoff ansetzt. Und das passiert oft nicht nur an einer Stelle. „Jeder Wirkstoff hat viele verschiedene Zielstrukturen, im Schnitt etwa 20 bis 50“, sagt Dr. Philip Gribbon vom Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie. Jedes Andocken an ein Ziel kann also einen anderen Effekt im Körper auslösen.

Entwickeln Forscherinnen und Forscher ein Medikament, steht meistens eine einzige Wirkung, die Hauptwirkung, im Fokus. Für das Medikamenten-Recycling, in der Fachsprache Repositionierung genannt, ist es wichtig zu wissen: An welche Angriffspunkte dockt die Substanz sonst noch an? Und kann man das nutzen?

Viele Wirkstoffe entfalten im Körper Dutzende Wirkungen. Jede Krankheit hat darüber hinaus zahlreiche Ansatzpunkte, über die sie sich beeinflussen lässt. Ein Berg von Wissen, der in riesigen Datenbanken gespeichert wird. Um diese zu analysieren, braucht es die Hilfe von Computern. So können bisher unbekannte Zusammenhänge aufgedeckt werden. Dazu ist es wichtig, die Mechanismen, die zu einer Erkrankung führen, genau zu kennen. Wird etwa ein Protein bei einer Krankheit im Übermaß produziert, weil das dafür zuständige Gen überaktiv ist? Und führt eine Substanz dazu, dass die Aktivität des Gens und damit die Produktion des Proteins im Körper gehemmt wird? Dann ist dieser Wirkstoff ein heißer Kandidat für eine neue Arznei.

Verfallsdatum

Medikament abgelaufen: Und dann?

Arzneimittel sollte man nur bis zum angegebenen Zeitraum verwenden. Darüber hinaus garantiert der Hersteller nicht mehr für Wirkung und Unbedenklichkeit zum Artikel

Gribbon vergleicht den Effekt gern mit der Arbeitsweise moderner Kopfhörer: Mikro­fone hören die Umgebung ab, registrieren alle Geräusche und analysieren sie. „Anschließend erzeugen die Kopfhörer ein ­Gegensignal, das das Umgebungsgeräusch neutralisiert, bevor es ins Ohr gelangt“, erklärt er. Genauso kann ein Medikament sozusagen die Störgeräusche im Körper aufheben, die zu der Erkrankung führen. Von den möglichen Kandidaten, die der Computer ausspuckt, geht laut Gribbon nur unter ein Prozent weiter zur Prüfung ins Labor. Zunächst wird in verschiedenen Zellkulturen von Menschen, welche die entsprechende Krankheit haben, getestet. Der Weg zu einem neuen Arzneimittel ist aufwendig und braucht Zeit. Auch beim Recycling.

Höhere Erfolgschance beim Recycling von Medikamenten

Doch warum recycelt man alte Wirkstoffe überhaupt? Wäre es nicht einfacher, neue Medikamente zielgenau zu entwickeln? Ein Grund: Das Risiko zu scheitern ist beim Recycling deutlich geringer. Die Präparate haben bereits in Studien gezeigt, dass sie verträglich sind. Manche Arzneien bekommen so auch eine zweite Chance. Sie sind wie das Potenzmittel Sildenafil in der Entwicklung durchgefallen, etwa weil sie weniger gut wirkten als erhofft. Bis vor wenigen Jahren schlummerten diese Versager in ­verschlossenen Schubladen der Industrie.

Ihr Vorteil: Daten über Sicherheit, Neben- und Wechselwirkungen gibt es bereits. Außerdem steht schon fest: Sie wirken! In der Regel weiß man auch wie. „Beim Repositionieren profitiert man von dem Wissen, von all der Arbeit, die schon gemacht wurde“, sagt Gribbon. Inzwischen gibt es große öffentliche sogenannte Substanzbibliotheken, auf die Forscherinnen und Forscher zugreifen können. Sie enthalten neben Tausenden Medikamenten, die es auf den Markt geschafft haben, auch nicht zugelassene Wirkstoffe, die als sicher gelten.

Weiterer Pluspunkt des Recyclings: Es spart Geld und Zeit. Die Neuentwicklung eines Wirkstoffs dauert im Schnitt 13 Jahre, die Kosten belaufen sich auf zwei bis drei Milliarden Dollar. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein neu entwickelter Wirkstoff wirklich auf den Markt schafft, liegt bei weniger als fünf Prozent. Zum Vergleich: Eine Neupositionierung kostet schätzungsweise ein Zehntel, also 300 Millionen Dollar.

Wiederverwendung auch während der Corona-Pandemie

Aber es gibt auch Nachteile. So darf die chemische Struktur beim Recycling nicht verändert werden. Sonst gilt der Wirkstoff als Neuentwicklung und muss alle Prüfstufen neu durchlaufen. „Die bestmögliche Situation wäre, wenn Patienten gegen die neue Erkrankung die gleiche Tablette in der gleichen Dosierung verwenden könnten“, erklärt Gribbon. Solche Glücksfälle gibt es ­tatsächlich, etwa bei einem alten Mittel gegen Allergien namens Diphenhydramin. Derselbe Wirkstoff ist heute als Arznei gegen Übelkeit und Erbrechen erhältlich.

Der Wirkstoff Raloxifen beugt Osteoporose vor. Aber er kann auch das Wachstum von Coronaviren blockieren.

Der Wirkstoff Raloxifen beugt Osteoporose vor. Aber er kann auch das Wachstum von Coronaviren blockieren.

Wie nützlich Recycling sein kann, zeigte sich nicht zuletzt während der Corona-Pandemie. In einem großen internationalen Forschungsverbund durchforstete das Fraunhofer-Institut mithilfe leistungsstarker Superrechner bekannte Wirkstoffe auf mögliche Anti-Corona-Effekte. Der Rechner spuckte unter anderem den Wirkstoff Raloxifen aus. Dieser hatte brereits einen zweiten Karriereweg eingeschlagen. Seit 1998 ist er für die Behandlung von und Vorbeugung gegen Osteoporose bei Frauen nach der Menopause zugelassen.

Später entdeckte man: Er wirkt bei Frauen mit erhöhtem Risiko für Brustkrebs auch vorbeugend gegen diese Krankheit. Kann ein Mittel, das die Knochen stabiler macht, auch gegen Viren helfen? In Zellversuchen zeigte sich: Raloxifen schafft es, die Vermehrung des Coronavirus zu blockieren. Zum Einsatz kam das Medikament aber nicht. „Die Konkurrenz war schneller, deren Substanzen wirksamer“, sagt Experte Gribbon. Neu entwickelte Arzneimittel gegen das Coronavirus Sars-Cov-2 sind selten. Die meisten Medikamente dagegen sind – ein Ergebnis erfolgreichen Recyclings.


Quellen: