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Die grünen Dinger müssen weg. Alle. Fein säuberlich sezieren Levis kleine Finger Erbse um Erbse aus dem Reis, bis der Reis kalt ist und die Erbsen aufgereiht neben dem Teller liegen. Levi, 5, kann endlich essen. Seine Mutter Lena Freiwald, 36, ärgert sich, denkt aber erst mal: nichts.

Haben wir nicht alle mal im Gemüse rumgepopelt? Klar, haben wir. Als Levi jedoch bald beginnt, konsequent alles abzulehnen, was nicht nur Reis ist, als er zusammenbricht, wenn sich andere Kinder in der Kita nicht an die Regeln halten, spätestens da keimt bei Lena der Verdacht: Ist Levi ­anders, ist er nicht mehr normal?

Was ist schon normal?

Normalsein ist wahrscheinlich nicht das Allererste, was wir uns für unsere Kinder wünschen. Sie dürfen schon auch besonders toll, in diesem Sinne speziell sein. Aber wenn es um die Gesundheit geht, die seelische Entwicklung, ist „normal“ das Ziel. Auch wenn wir von diesem „normal“ meist nur eine diffuse Vorstellung haben.

Was ist normal und wo fängt eine Störung an? Manchmal trampelt eben einen Dino durchs Wohnzimmer

Was ist normal und wo fängt eine Störung an? Manchmal trampelt eben einen Dino durchs Wohnzimmer

Unsere Kinder sollen fröhlich sein, Freundinnen und Freunde haben, möglichst unbeschwert, aber ein bisschen zielstrebig sein. Wild auch, aber nicht zu sehr. Sie sollen Zähne putzen, Lego wegräumen, Bitte und Danke sagen. Unsere Liebe erwidern. Dass das nicht alles reibungslos klappt, dass da mal ein Monster unterm Bett einzieht, Freundschaften zerbrechen, Tränen fließen, die Zahnpasta nicht schmeckt und es Tobsuchtsanfälle gibt: eingepreist. So ist das Leben.

Was heißt schon „Störung“?

Ganz wichtig: Alles, was hier erwähnt wird, ersetzt niemals die Diagnose durch erfahrene Fachärztinnen, Kinderpsychologen oder Psychiaterinnen und Psychiater.

Erste Schritte: Zunächst sind Kinderärztin und Kinderarzt die richtigen Ansprechpartner. Sie kennen euer Kind im besten Fall seit der Geburt und können in sehr vielen Fällen Entwarnung geben. Gibt es tatsächlich Auffälligkeiten, die näher beleuchtet werden sollten, überweist die Kinderärztin oder der Kinderarzt für eine ­tiefer gehende Diagnostik an Ambulanzen, sozialpädiatrische Zentren oder niedergelassene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen oder Psychiater.

Psychische Störungen sind komplex

Was aber, wenn ein Kind lange, lange traurig ist, ständig brüllt, andere beißt, auf keinem Kindergeburtstag erwünscht ist oder – wie eben Levi – nur Reis mit Salz isst? Ist das noch dieses „normal“? Wo endet das? Und was kommt dann?

Der Berg, vor dem Eltern mit einem besonderen, einem auffälligen Kind stehen – einem Kind wie Levi –, kann riesig sein. Das hat unter anderem auch mit dicken Büchern zu tun, in denen sämtliche Kriterien für psychische Störungen zu finden sind, wie die ICD-Klassifikation: 528 Seiten, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Wer da reinblättert, ist leicht überzeugt: So etwas wie Normalität gibt es kaum noch, und ganz bestimmt trifft eine dieser Störungen auf das eigene Kind zu.

Was hat mein Kind? Wenn die Störung einen Namen bekommt, ändert das am Alltag nichts

Was hat mein Kind? Wenn die Störung einen Namen bekommt, ändert das am Alltag nichts

Es hat aber auch damit zu tun, dass in den Medien und sozialen Netzwerken heute sehr viel vom Autismus-Spektrum die Rede ist, von Erwachsenen und Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Überhaupt scheint es da eine Schwemme psy­chiatrischer Diagnosen bei Kindern zu geben.

Im Netz wabern auch Begriffe wie „Neurodiversität“, „Gefühlsstärke“, „Hypersensibilität“ herum, was vielleicht sanfter und zum Teil entlastender klingt, aber letztlich nichts anderes meint als „Störung“. Auch an den Herausforderungen für Eltern im Alltag ­ändert das nichts. Und dann gab es da im vergangenen Jahr diese Studie, der zufolge die Zahl der Fälle der Autismus-Spektrum-Störungen bei Grundschulkindern binnen 16 Jahren um das Fünffache gestiegen sein soll. Vielleicht hat mein Kind das am Ende auch?

Mädchen schaut traurig

Phänomen Autismus

Die Diagnose kann heute schon im Kleinkindalter gestellt werden. Zumindest in der Theorie. In der Praxis dauert es oft Jahre, bis Kinder Hilfe erhalten. Experten erklären, worauf es ankommt zum Artikel

Ruhe bewahren – das ist bei diesem Thema vermutlich das Wichtigste. Und erst mal die beruhigende Nachricht: „Gerade im Vorschulalter entwickeln sich Kinder total unterschiedlich“, sagt Dr. Oliver Dierssen, Kinder- und Jugendpsychiater in Hannover. Diese Entwicklung sei auch nicht einfach ein genereller Reifungsprozess, sondern habe ganz viele Dimensionen.

Es geht um kognitive Fähigkeiten, körperliche Fähigkeiten wie Grob- und Feinmotorik, soziale Intelligenz, Empathie, Fleiß oder Konzentration. „Das alles entwickelt sich bei jedem Kind unterschiedlich schnell. Deshalb ist es auch so schwierig, von Normalität zu sprechen. Das muss ich als Elternteil erst mal auf dem Schirm haben.“

Manchen Kinder sind vielleicht etwas speziell, aber das muss nicht gleich eine psychische Störung sein

Manchen Kinder sind vielleicht etwas speziell, aber das muss nicht gleich eine psychische Störung sein

Und schließlich muss man bei aller Elternperspektive auch genau schauen, wie es dem Kind selbst eigentlich geht. „Wenn es nicht dauerhaft leidet, im Alltag und im sozialen Miteinander nicht beeinträchtigt ist, kann es ja etwas speziell sein, aber es ist nicht psychisch gestört“, sagt die Kinderpsychiaterin Prof. Dr. Carola Bindt vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Unsichere Eltern sollten sich beraten lassen. „Wir gehen doch auch zum Kinderarzt, wenn wir befürchten, dass das Fieber oder das Bauchweh behandelt werden muss.“

Angst vor Stigmatisierung

Nur ist ein Magen-Darm-Infekt eins sicher nicht: stigmatisierend. Genau dieses Stigma aber, das dem Besuch in der kinderpsychiatrischen Praxis und einer möglichen Diagnose noch immer anhaftet, hält viele Eltern ab, sich auf den Weg zu machen. Der Vermeidungsimpuls – das verwächst sich noch – kann genauso schädlich sein wie der unbedingte Wille, dass das Verhalten des Kindes endlich einen Namen und damit eine Erklärung bekommt.

„Einige Eltern wollen unbedingt die Diag­nose“, sagt Bindt. „Für das Kind aber würde das womöglich bedeuten: Wenn ich das habe, dann kann ich anders gar nicht mehr sein.“ Sie rät Eltern, ergebnisoffen an die Sache heranzugehen: „Oft können wir beruhigen, weil das Kind vielleicht vorübergehende Auffälligkeiten, aber keine psychische Störung hat.“

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Wie viel ist vererbt?

Levi hat noch keine Diagnose bekommen, die Diagnostik läuft zurzeit. Seine Mutter aber geht davon aus, dass es eine geben wird. Sie tippt auf Autismus-Spektrum, gepaart mit Hochsensibilität. Sie hat Erfahrungen. Levis älterer Bruder Finn, 7, bekam seine Diagnose mit sechs Jahren: Autismus-Spektrum-Störung mit kognitiver Einschränkung. Er ist völlig anders als der kleine Bruder, gern für sich, aber trotzdem „empathisch und menschenbezogen“, sagt Lena. „Er ist ein sehr glückliches Kind.“

Bei Levi sei der Leidensdruck viel höher. Den Vater der beiden Jungen erinnert manches an Finn daran, wie er selbst als Kind war, auch wenn die geistige Einschränkung da fehlte. Auch er wartet auf eine Diagnostik. Autistische Störungen, das legen Studien nahe, könnten bis zu 80 Prozent erblich sein. Was ein bisschen so klingt, als gäbe es ein einziges „Autismus-Gen“. Tatsächlich aber gibt es wohl eher viele erbliche Varianten verschiedener Gene, die hier zusammenspielen, genau verstanden ist das alles noch nicht.

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Unklar ist ebenfalls, ob Mädchen wirklich so viel seltener von psychischen Problemen betroffen sind als Jungen. Oder ob eine sogenannte Neurodivergenz (Abweichung) bei Mädchen gar nicht oder erst sehr spät bemerkt wird. Wenn Jungen besonders sind, sich anders verhalten, fällt das heute häufig früh auf. So still oder wütend, da stimmt doch was nicht. Bei Mädchen heißt es eher: Ach, ist halt ein ruhiges Kind. Oder es ist lebhaft, weint oft, aber trotzdem ja so lieb.

Eltern sollten sich keine Vorwürfe machen

Als Martina (Nachname der Redaktion bekannt) nicht mehr kann, ist ihre Tochter Leah seit Kurzem eingeschult. Fast täglich eskaliert die Situation am Morgen. „Noch 20 Minuten. Leah, wir müssen los!“ Leah steht vor der Mama, noch in Unterhose – und mit dem Wort „Minuten“ geht die Klappe zu. Tobsucht, Tränen, kein Halten mehr. „Es hat regelmäßig eine Stunde länger gedauert, die ganze Familie war beschäftigt“, sagt Martina.

Leah kommt zu spät, aber das ist nicht alles. Immer wieder verliert sie die Brille, die sie seit ihrem zweiten Lebensjahr trägt. Zu Hause, im Miteinander reicht ein Wort, eine Geste und die Tränen fließen. Die Eltern sind ratlos, trösten. Sind angestrengt. Abends im Bett sagt Leah: „Ich weiß überhaupt nicht, woher das kommt. Ich will, dass das aufhört.“

Martina und ihr Mann zweifeln, und zwar erst mal an sich selbst. Haben sie sich nicht genug gekümmert? Etwas übersehen? Irgendwann, als die Mutter wie jeden Abend bei Leah im Zimmer sitzt und wartet, bis ihre Tochter eingeschlafen ist, googelt sie „ADHS“ und „Mädchen“. „Ich hatte so ein Bauchgefühl, schon länger“, erzählt sie.

Viel seriöse Information findet Martina nicht. Aber doch etwas. Und sie erkennt darin ihre Tochter: „Es war nur ein kurzer Text, auf einer Seite von Kinderärzten, ich hab ihn gleich meinem Mann geschickt mit der Frage: An wen denkst du?“ Der Erleichterung, endlich einen Anhaltspunkt für Leahs Schwierigkeiten zu haben, folgt die Ernüchterung. Denn an wen wendet man sich eigentlich, wie vorgehen, wenn man seinem Kind helfen will?

ADHS

ADHS ist eine der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter. Jungen erhalten die Diagnose etwa drei- bis sechsmal häufiger als Mädchen.

Mögliche Anzeichen: Einige Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schreien schon in der Säuglingszeit auffällig viel. Später werden meist erhebliche Konzentrationsschwächen erkennbar, begleitet von Unruhe und impulsiven Verhaltensweisen. Das berühmte Zappeln, also die Hyperaktivität, kann allerdings auch vollständig fehlen. Viele Kinder mit ADHS haben ein negatives Selbstbild, leiden unter Leistungsängsten, verschusseln wichtige Gegenstände; manchen fällt es schwer, Muster zu erkennen oder sich Gesichter zu merken.


Weitere Informationen erhalten Sie hier oder auf der Internetseite der Kinder- und Jugendärzte im Netz.

Eine Odyssee bis zur Diagnose

„Normalerweise ist die Kinderärztin oder der Kinderarzt die erste Ansprechperson“, sagt ­Carola Bindt. Die kennen meistens die Entwicklung der Kinder ganz gut, haben vielleicht selbst schon Anhaltspunkte für bestimmte Probleme. In Leahs Fall war dem Kinderarzt allerdings nie etwas aufgefallen, deshalb sucht Martina jetzt auf eigene Faust nach Fachleuten.

Ihre Odyssee durchs Gesundheitssystem hat Leahs Familie bis heute noch nicht beendet. Nach dem ersten Verdacht vergehen Monate, bis Martina für ihre Tochter einen Termin in einer Spezialambulanz bekommt. Die Diagnostik dort ist gut, rigoros, es gibt Unmengen an Tests und Fragebögen für Kind, Eltern, sogar für die Schule. Alles wird beleuchtet, und am Ende bestätigt sich der Verdacht: Leah hat ADHS und zusätzlich eine Rechtschreibschwäche.

Sie braucht Hilfe, eine Therapie, vielleicht auch Medikamente. Die Ambulanz aber behandelt nicht, für eine Therapie muss das Kind in eine psychiatrische Praxis. Und als Martina, wieder Monate später, mit Leah endlich in so einer Praxis sitzt, mit dem viele Seiten langen Arztbrief aus der Ambulanz, kann sie es nicht fassen: Die Diag­nostik soll wiederholt werden, alles von vorn.

ADHS kann auch Mädchen betreffen. Die meisten weiblichen Betroffenen zeigen sich schüchtern und zurückhaltend.

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Und wenn das nicht mehr weggeht?

Von solchen Endlosreisen erzählen viele Eltern. Zu wenig würden die Hilfsangebote ineinandergreifen. Dabei habe eine Diagnose ganz praktische Folgen, sagt Lena Freiwald. So konnte sie kaum arbeiten, weil es für ihre Söhne keine inklusive Betreuung in den Einrichtungen gab. Die Familie brauchte finanzielle Unterstützung.

„Es hat lange gedauert, bis wir für Finn Pflegegeld bekamen. Und für eine Extra-Betreuung in der Schule beispielsweise braucht man nun mal die Diagnose schwarz auf weiß.“ Ihren Instagram-Account, auf dem sie vom Leben mit zwei neurodivergenten Kindern berichtet, hat sie „das_verwaechst_sich_nicht“ genannt.

Bei einem Teil der Kinder verwachse sich ein seelisches Problem durchaus, sagt Psychiater Dierssen. Nur könne man das vorher einfach nicht wissen. „Und wenn es dann eben nicht ausheilt über die Pubertät, hat man mit Zuwarten nichts gewonnen, im Gegenteil.“ Die ersten zwölf Lebensjahre seien prägend für die Persönlichkeitsentwicklung. „Und wenn die Kinder in dieser Zeit lernen, ich bin dumm, ich bin anders, ich kann’s nicht – dann ist das eingebrannt. Lebenslang.“


Quellen:

  • World Healt Organization (WHO): International Classification of Diseases 11th Revision, International Classification of Diseases 11th Revision. https://icd.who.int/... (Abgerufen am 13.03.2024)
  • Shenouda J et.al.: Prevalence and Disparities in the Detection of Autism Without Intellectual Disability . Pediatrics: https://doi.org/... (Abgerufen am 13.03.2024)
  • N.N.: Autism spectrum disorder, MedLine Plus. https://medlineplus.gov/... (Abgerufen am 13.03.2024)
  • Freitag C: Was sind Autismus-Spektrum-Störungen? . Neurologen und Psychiater im Netz: https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/... (Abgerufen am 13.03.2024)
  • Berufsverbamd der Kinder- und Jugendärzt*innen: ADHS - Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Kinder- & Jugendärzte im Netz : https://www.kinderaerzte-im-netz.de/... (Abgerufen am 13.03.2024)
  • Bundesverband der Kinder- und Jugendärzt*innen: > Krankheiten > Depressionen. Kinder- & Jugendärzte im Netz : https://www.kinderaerzte-im-netz.de/... (Abgerufen am 13.03.2024)