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Herr Dr. Horlemann, in Deutschland leiden etwa 23 Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen. Was sind die Gründe?

Denken Sie daran, wie viele Menschen zum Beispiel stundenlang vor dem TV oder dem PC sitzen oder mit ihrem Handy beschäftigt sind. Viele Schmerzen des Bewegungsapparats erscheinen, weil wir uns weniger bewegen und auch den Kraftaufbau vernachlässigen.

Würde es ausreichen, würden wir uns mehr bewegen?

Nein. Das Nächste ist, dass die Bevölkerung immer älter wird. Und schwerwiegende Tumorerkrankungen oder Nervenschmerzen ganz klar einen Altersbezug haben. Ich glaube: Mit 23 Millionen Schmerzpatientinnen und -patienten haben wir die Grenze noch nicht erreicht.

Gibt es denn genug Fachleute, um noch mehr Schmerzgeplagte zu betreuen?

Eigentlich gibt es nicht mal genug Fachleute, um die momentane Situation zu stemmen. Wir haben aktuell etwa 1200 bis 1300 Ärztinnen und Ärzte, die schmerzmedizinisch weitergebildet sind. Sie behandeln Personen mit sehr starken chronischen Schmerzen, vor allem wenn Haus- oder andere Fachärzte nicht mehr weiterkommen. Von solchen Schmerzen sind deutschlandweit etwa 3,4 Millionen Menschen betroffen. Pro Quartal ist vorgesehen, dass ein Schmerzmediziner oder eine Schmerzmedizinerin etwa 300 Patienten betreut. Wenn man nachrechnet, kann das nicht ausreichen.

Muss jeder Mensch mit Schmerzen zu einem schmerzmedizinischen Spezialisten oder einer Spezialistin?

Zunächst: Die 23 Millionen schmerzleidenden Menschen sind eine Größenordnung, die alle Schmerzbilder einbezieht. Die chronisch schwergradig beeinträchtigten Menschen sind aber unser großes schmerzmedizinisches Problem – zum Beispiel Schmerzen von Tumorkranken oder auch der chronische Rückenschmerz. Wird früh genug erkannt, dass sich ein akuter Schmerz zu einem chronischen entwickelt, kann ein langer Leidensweg erspart werden – sofern die behandelnde Kollegin oder der Kollege rechtzeitig zu einem spezialisierten Schmerzmediziner überweist. Die spätere Weiterbehandlung kann dann in vielen Fällen wieder der Kollege übernehmen, der den Patienten bis dahin betreut hat, etwa der Hausarzt oder Orthopäde.

Wann wäre das am besten?

Ob ein akuter Schmerz, wie Nervenschmerzen nach einer Gürtelrose, chronisch wird, entscheidet sich in den ersten drei bis sechs Monaten. Für viele Betroffene ist in der frühen Phase ihrer Schmerzen der erste Ansprechpartner jemand aus der Basisversorgung, etwa der Hausarzt oder die Hausärztin. Am besten wird gleich hier erkannt, dass chronische Schmerzen drohen. Je länger das nicht der Fall ist, desto stärker senkt sich die Schmerzschwelle im Gehirn, was die Patientin oder den Patienten noch empfindlicher für Schmerzen macht.

Wie geht es im Idealfall weiter?

Die Ärztin oder der Arzt versucht eine mehrdimensionale Therapieform zu erstellen – neben Arzneimitteltherapie auch psychologische oder physiotherapeutische Behandlungen. Das funktioniert nur zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen: Psychologen, Physiotherapeutinnen, auch Sozialarbeiter. Alle bringen ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen mit ein, um gemeinsam die beste Behandlung zu finden. Das führt zu einer besseren Therapie, als wenn einer alleine entscheidet. Wer in Wohnortnähe kein solches medizinisches Netzwerk findet, kann sich an die nächstgelegene Schmerzmedizinerin oder einen Schmerzmediziner überweisen lassen; oder man lässt sich in eine auf Schmerzen spezialisisierte Klinik schicken und wird dort gegebenenfalls stationär betreut.

Wie findet man eine Schmerzmedizinerin oder einen Schmerzmediziner?

Es gibt circa 120 sogenannte Schmerzzentren in Deutschland. Hier erhalten Betroffene eine ausführliche ambulante oder stationäre Behandlung. Für viele Patientinnen und Patienten ist das allerdings nicht wohnortnah, sondern schon mal mit einer Fahrt von bis zu einer Stunde verbunden.

Diese Wege muss man auf sich nehmen?

Wie gesagt: nicht alle. Aber die Not der Menschen mit sehr starken chronischen Schmerzen ist groß. Wenn sie mit der aktuellen Therapie nicht weiterkommen, nehmen sie sehr weite Wege in Kauf für eine ausreichende Schmerzlinderung. Es geht ja darum, die Schmerzen so weit zu lindern, dass sie wieder eine Qualität im täglichen Leben bekommen.

Was wünschen Sie sich für eine noch bessere schmerzmedizinische Versorgung in Deutschland?

Ich denke, ein „Facharzt für Schmerzmedizin“ könnte helfen; den gibt es aktuell nicht. Ein solcher Facharzt, der mit neurologischen, orthopädischen, psychologischen und mit anderen Kenntnissen ausgerüstet ist, hat sich in Ländern wie Irland oder Israel schon bewährt. Ich habe auch Hoffnung, dass während des Studiums noch mehr zum Thema Schmerzmedizin gelehrt wird. Mittlerweile gibt es eine freiwillige Vorlesungsreihe über Schmerzmedizin, die Studentinnen und Studenten besuchen können. In meiner Tätigkeit an der Universität sehe ich, dass gerade eine Ärztegeneration heranwächst, die ein besseres Bewusstsein für die Krankheit „chronischer Schmerz“ hat.

Sie haben also Hoffnung, dass Menschen mit Schmerz bald nicht mehr so weit fahren müssen?

Ich glaube, dass das noch einige Zeit dauern wird. Ich bin jetzt 68, wenn ich mal 80 bin, bin ich gespannt, wer mich schmerzmedizinisch betreut. Vielleicht ja einer meiner Studenten.

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Quellen:

  • Kassenärztliche Bundesvereinigung: Qualitätssicherungsvereinbarung Schmerztherapie. Online: https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 20.09.2023)
  • Markus Dietl, Dieter Korczak: Versorgungssituation in der Schmerztherapie in Deutschland im internationalen Vergleich hinsichtlich Über-, Unter- oder Fehlversorgung. Online: https://portal.dimdi.de/... (Abgerufen am 20.09.2023)
  • Kriegisch V., Kuhn B.,Dierks M.-L., et al. : Bewertung der ambulanten ärztlichen Schmerztherapie in Deutschland, Ergebnisse einer internetbasierten Querschnittsbefragung unter ambulant tätigen Schmerzmedizinern. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 20.09.2023)