Zerfällt die Corona-Solidarität?
Fußballer liegen sich nach einem Tor jubelnd in den Armen, vor den Ticketschaltern an den Flughäfen reihen sich lange Schlangen Urlaubsreisender. Gleichzeitig dürfen Kinder nicht in die Schule gehen, haben Menschen Angst um ihre Gesundheit oder kranke Angehörige, ihren Arbeitsplatz und ihre Zukunft. Wie passt das zusammen? Warum fällt es manchen so schwer, sich an Regeln zu halten und wie kann sich jeder Einzelne von uns motivieren, stark zu bleiben?
Selektive Wahrnehmung ausblenden
Ja, es gibt sie: Menschen, die keine Masken tragen oder sie nur halbherzig über den Mund ziehen. Die auf die geltenden Abstands- und Hygiene-Regeln pfeifen und sich dicht an dicht wie Ölsardinen auf Wolldecken im Park sonnen. „Aus meiner Erfahrung und Wahrnehmung halten sich aber doch die meisten noch konsequent an die Corona-Maßnahmen“, erklärt der Psychologe Prof. Dr. Nico Bunzeck von der Universität Lübeck. „Natürlich gibt es Faktoren, wie das schöne Wetter, die die Situation tatsächlich erschweren und die Menschen zusammenrücken lassen. Denn wir sind eben nicht nur biologische Wesen, die sich mit einem Virus infizieren können, sondern auch soziale Wesen, die Nähe und das Miteinander brauchen.“ Besonders auffällig sind vermeintliche Regelverstöße, wenn sie öffentlich stattfinden, wie zum Beispiel im Fernsehen. Bunzeck plädiert dafür, auch in diesen Fällen hinter die Fassade zu schauen. „In der Regel befolgen auch diese Personen die Sicherheitsvorkehrungen. Meines Wissens isolieren sich Fußballer gemeinsam vor Spielen und werden im Vorfeld auf das Corona-Virus getestet.“
Gemeinsam sind wir stark
Regeln nicht zu akzeptieren, Grenzen auszutesten und Schlupflöcher für den eigenen Vorteil zu nutzen, ist im menschlichen Verhalten jedoch nicht unüblich. Die Corona-Pandemie hat auch in diesem Bereich einfach wie ein Vergrößerungsglas gewirkt, Regelverstöße fallen jetzt stärker auf. Der Grund: die Leidensfähigkeit vieler Menschen stößt an ihre Grenzen, das kritische Beobachten und die Suche nach Auslösern, die die Krise verlängern könnten, nimmt zu.
Abweichungen sind dennoch normal und können in erster Linie durch eine gute Kommunikation vermieden werden. Bunzeck: „In der Psychologie lässt sich dieses Verhalten oftmals durch Reaktanz erklären.“ Das kennen Eltern zum Beispiel von Kleinkindern in der Trotzphase und Jugendlichen in der Pubertät: „In Experimenten lässt sich beobachten: Verbote, die als persönlich besonders relevant empfunden werden und die persönliche Freiheit stark beschränken, führen besonders häufig zu reaktantem Verhalten und Regelverstößen.“
Dieses Phänomen lasse sich auch auf die Corona-Krise übertragen: Maßnahmen, die als persönlich bedeutsame und möglicherweise unnötige Einschränkungen empfunden werden, könnten missachtet werden.“ Nimmt das zu, halten sich also immer weniger Menschen an das konsequente Masketragen, den Mindestabstand und die Kontakteinschränkungen, wird es möglicherweise schwierig. „In der Psychologie sprechen wir hier vom Majoritätseffekt: Wenn alle mitmachen, ist es für den Einzelnen auch einfacher, Einschränkungen hinzunehmen. Halten sich viele nicht daran, bin ich eventuell auch eher geneigt, mich nicht mehr an Vorgaben zu halten.“
Vom Maulwurf zum Adler
Doch wie motiviere ich mich, wenn ich merke, dass auch mir langsam die Puste ausgeht? Psychotherapeut und Buchautor Holger Kuntze aus Berlin hat dafür Verständnis: „Früher versuchten Therapeuten oft, Patienten Werkzeuge an die Hand zu geben, negative Gefühle und Gedanken am besten schon im Keim zu ersticken. Doch das ist nicht möglich und auch nicht hilfreich. Ich arbeite mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie: Es ist gut, die Krise und die eigenen Belastungen zu akzeptieren und anzuerkennen. Es ist ok, dass es einem nicht gut geht und wir brauchen auch nichts Positives aus dieser Pandemie zu ziehen. Erinnern Sie sich aber am besten auch an bessere Zeiten und entwickeln Sie Zuversicht, dass es wieder besser wird.“ Kuntze empfiehlt die innere Phantasie anzuregen: „Entscheidend ist auch der Blickwinkel. Ich kann die Krise aus Sicht eines Maulwurfs sehen, der immer nur einen riesigen Erdhügel vor sich hat, den er wegräumen muss. Ich kann aber auch die Perspektive des Adlers einnehmen und erkennen, was wir schon alles geschafft haben.“ Der Experte rät das Fragewort ‚Warum‘ eher durch ein ‚Wozu‘ zu ersetzen: „Auf die Frage ‚Warum muss ich solche Probleme erleben?‘ wird es keine Antworten geben, sie frustriert nur. Produktiver kann sein ein: ‚Wozu kann ich diese Krise nutzen? Was kann ich mit meinem verantwortlichen Verhalten zur Beendigung der Pandemie beitragen?‘. Denn im günstigsten Fall sind wir alle Teil der Lösung und nicht Teil des Problems.“