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Die Tage werden kürzer, die Sommerzeit ist vorbei, und viele trauern der Wärme des Sommers hinterher. Herbst-Blues – schon der Begriff weist darauf hin: Es gibt in unseren Breitengraden jahreszeitlich bedingte Schwankungen im Biorhythmus, die sich auf die Stimmung auswirken können. „Den meisten unserer Patienten ist bekannt, dass es in den kalten und dunklen Monaten über den Hormonhaushalt zu Veränderungen im Erleben und Verhalten kommen kann“, sagt Janin Kronhardt, Psychologin und Psychoonkologin am Sana Klinikum Lichtenberg in Berlin. In der dunkleren Jahreszeit steigt zum Beispiel der Spiegel des Schlafhormons Melatonin an, das von der Zirbeldrüse produziert wird und dessen Freisetzung durch Dunkelheit angeregt wird. Die Folge: Wir werden müder.

Janin Kronhardt, Psychologin und Psychoonkologin am Sana Klinikum Lichtenberg in Berlin

Janin Kronhardt, Psychologin und Psychoonkologin am Sana Klinikum Lichtenberg in Berlin

Aktiv gegen die Niedergeschlagenheit

„Da muss man wohl durch. So ist das eben im Herbst und Winter.“ Dieser Glaubenssatz hält sich bisweilen neben allem Wissen über biochemische Prozesse in der kalten Jahreszeit hartnäckig, sagt Janin Kronhardt. Immer wieder hört sie das jedenfalls sinngemäß von Patienten, die sich niedergeschlagen und antriebslos in den Herbst- und Wintermonaten fühlen. „Das müssen Sie nicht!“, sagt sie dann. Und dass es nicht nur unnötig ist, sich vielleicht sogar bis ins Frühjahr auf weniger Energie und Lebensfreude einzustellen, sondern mitunter verschenkte Lebenszeit: „Denn jeder kann proaktiv etwas gegen den Herbst-Blues tun und so womöglich das Risiko für eine behandlungsbedürftige saisonal abhängige Depression* reduzieren.“

SAD: Die saisonal abhängige Depression

Als „Klinisch relevant“ gilt die saisonal abhängige Störung (SAD, Seasonal Affective Disorder) dann, wenn „drei oder mehr Episoden einer affektiven Störung mit Beginn innerhalb desselben 90-Tage-Zeitraums in drei oder mehr aufeinanderfolgenden Jahren“ vorliegt (Zitat aus dem Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen von H. Dilling; H.J. Freyberger; 7. Überarbeitete Auflage, Verlag Hans Huber). Typische Anzeichen sind ein vermehrtes Schlafbedürfnis (ohne das Gefühl, erholt aufzuwachen), ein gesteigerter Appetit sowie nicht selten eine Zunahme beim Gewicht.

Untersuchungen haben gezeigt, dass nur zehn Prozent derer, die im Herbst oder Winter depressive Symptome aufweisen, auch wirklich an SAD leiden. Das heißt, hinter einer vermeintlichen „Winterdepression“ kann auch eine vom jahreszeitlichen Geschehen völlig unabhängige Depression oder auch andere psychische Störungen stecken. Zu den übrigen 90 Prozent können allerdings auch Betroffene zählen, deren Verstimmung sehr wohl jahreszeitlich beeinflusst ist, aber noch nicht über einen „klinisch relevanten“ Zeitraum.

Die Methoden, die Fachleute zum Gegensteuern empfehlen, setzen zumeist genau da an, wo der Organismus ins (hormonelle) Ungleichgewicht kommt. Sogenannte Tageslichtlampen führen oft schon nach kurzem Einsatz zu einer Verbesserung des Befindens. Diese können am Schreibtisch oder auch während des Frühstücks am Essplatz gezielt für eine Extra-Portion Lux sorgen. Täglich eine halbe bis eine Stunde können sich dabei positiv auf die Stimmung auswirken.

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Raus an die frische Luft

Fast noch lieber aber legt Kronhardt den Betroffenen etwas anderes ans Herz. Etwas, was sie „drei auf einen Streich“ nennt – drei therapeutische Elemente in einem. Schließlich vereine der möglichst tägliche Herbst-Spaziergang Farb-, Licht- und Bewegungstherapie: Das Naturerlebnis mit den herbstlich bunten Farben wirkt ausgleichend. Das Tageslicht wirkt als Stimmungs-Booster. „Und last but not least steigert Universalmedizin Bewegung nachweislich das Befinden.“

Wer kann, sollte auch im Herbst bei Tageslicht die Natur genießen

Wer kann, sollte auch im Herbst bei Tageslicht die Natur genießen

Dr. Eike Treis-Hoffmann, Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Arbeitsmedizin aus Starnberg, glaubt, dass zusätzlich zu den körperlichen Vorgängen auch eine überhöhte Erwartungshaltung an uns selbst für den Herbst-Blues mit verantwortlich ist: „Wir haben heute den Anspruch, übers ganze Jahr gleichbleibend zu funktionieren – ohne einmal darüber nachzudenken, wie anders das Leben vor noch gar nicht allzu langer Zeit lief.“ In der Landwirtschaft zum Beispiel: Im Oktober war die Ernte eingefahren, der Pflug war winterfest im Schuppen verstaut – von da an saß die Belegschaft eines Hofes abends oft im einzigen beheizbaren Raum zusammen, oft um eine einzige Kerze. Klar, dass das Bett auch wegen der eingeschränkten Möglichkeiten recht bald rief. In der Stadt dürfte es zumindest vor der Industrialisierung so ähnlich gewesen sein.

Heute endet ein Büro-Tag im Sommer genauso früh beziehungsweise spät wie im Winter. Der sonntägliche Lieblingskrimi kommt um kurz nach acht, was im August gefühlt fast noch mitten am Tag und im November fast schon nachts sein kann. Auch für Verabredungen ist der 20-Uhr-Termin für viele ein guter Anhalts-Wert, ganzjährig. Unabhängig davon, ob diese Zeit sich wirklich gut und richtig anfühlt.

Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und innerem Erleben

Eike Treis-Hoffmann erzählt von Patienten, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass mehrmals die Woche joggen nach Feierabend gut und wichtig ist und die das auch dann weiter durchziehen, wenn der Spaß und die Leichtigkeit längst verflogen sind. „Natürlich ist Bewegung rund ums Jahr empfehlenswert“. Aber wenn einem an einem nass-kalten Novemberabend eigentlich viel mehr nach Ruhe zumute ist – warum dann nicht auf die Körpersignale hören und stattdessen mal Yoga im Wohnzimmer probieren und sich danach ein Bad gönnen?

Dr. Eike Treis-Hoffmann, Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Arbeitsmedizin aus Starnberg

Dr. Eike Treis-Hoffmann, Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Arbeitsmedizin aus Starnberg

Die Medizinerin, die auch Psychotherapeutin ist, empfiehlt, bei herbstlichen Stimmungstiefs an dieser Stelle einmal genauer hinzuschauen. Klar, aus einigen gesellschaftlichen Anforderungen kommen wir nicht raus. Wir haben vertraglich festgelegte Arbeitszeiten, familiäre Verpflichtungen. Darüber hinaus machen wir uns aber nicht selten selbst Druck. Von Glaubenssätzen, die wir hinterfragen dürfen, weil sie uns zwar anspornen, aber auch weit über ein gesundes Maß fordern können, spricht Treis-Hoffmann weiter. Alle sind gut drauf, nur ich bin es nicht. Oder auch: Ich muss fit und leistungsfähig sein, sonst gehöre ich nicht dazu. „Es macht was mit uns, wenn wir auf diese Weise über weite Strecken an unseren wahren Bedürfnissen vorbeileben,“ warnt die Fachfrau. Wenn wir uns beispielsweise immer wieder für Geselligkeit vor die Tür zu quälen, obwohl uns in Wirklichkeit nach Couch und Kuscheldecke ist.

Dabei kann es so viel mehr als Verzicht sein, das Muster zu durchbrechen und den Herbst als Einladung für etwas zu begreifen, was im Sommer wegen der vielen Reize von außen oft eher schwerer fällt. „Der Körper sendet sowieso Signale in diese Richtung Innehalten und Ruhig-Werden, also gehe ich ihnen nach“, beschreibt Janin Kronhardt, wie man diese besondere Zeit für sich nutzen kann. Von einer Fähigkeit, wie sie letztlich in Achtsamkeits-Trainings vermittelt würde, spricht sie weiter. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Achtsamkeit nicht etwa automatisch mit wohligem Gefühl gleichzusetzen ist, wie manche meinen. Was sagt mir mein Körper, was meine Seele? Wichtig für die Psychologin: „Jeder Gedanke, jedes Gefühl darf sein, wird wahrgenommen und gewürdigt.“ Auch Trauer, auch Bedrücktheit, auch Melancholie.

Rituale als Übergangs-Helfer

Eike Treis-Hoffman ist überzeugt: Würden wir jahreszeitliche Übergänge bewusster leben und achtsamer, offener, wohlwollender wahrnehmen, wären wir gelassener, zufriedener und sogar gesünder. Nicht ohne Grund bringt der Herbst in unserer Kultur für sie eine Reihe von Festen, die auch mit innerer Einkehr und Reflektion zu tun haben. Das Erntedankfest zum Beispiel: Erntegaben werden dargebracht, Bilanz wird gezogen. Wofür bin ich dankbar? Was lasse ich hinter mir, was begrüße ich? Fragen, die sich der einzelne genauso stellen kann wie eine Dorfgemeinschaft. Und was ersteres angeht, findet Treis-Hoffmann, gibt es kaum einen besseren Rahmen als einen Herbstabend bei einer Tasse Tee und Kerzenschein. „Das kann man, wenn man ein keines Dankbarkeitstagebuch führt, sogar richtig kultivieren.“

Sie weiß, viele finden diese Vorstellung zunächst komisch: Sich einfach mal mit sich selbst verabreden. Dafür einen fixen Termin im Kalender notieren, was dem Ganzen die Beliebigkeit nimmt. Einen Raum für den Wandel schaffen, darum geht es. Und dann? „Ein guter Einstieg ist es, das Alte möglichst konkret zu verabschieden.“ Zum Beispiel, indem man sich noch einmal mit Hilfe von Fotos an schöne Momente erinnert und diese als kraftgebend speichert. Oder auch, indem man vor die Tür geht, ins am Boden liegende Herbstlaub greift und Belastendes aus der Vergangenheit oder auch Zukunftssorgen loslässt wie die Bäume die Blätter.

Ankommen in der neuen Jahreszeit

Für Eike Theis-Hoffmann reichen weitere Möglichkeiten für den bewusst gestalteten Wandel vom Tee mit Freunden an der Feuerschale über ein letztes Glas Rosé zum Abschied des Sommers bis zu Klassikern wie buntes Laub und Kastanien sammeln – mit oder ohne Kindern. Mindestens genauso wichtig wie das Event selbst allerdings: Die Haltung, mit der das Ganze geschieht. Hallo Herbst… „Es macht einen Unterschied, ob wir bereit sind und die neue Zeit willkommen heißen. Oder ob wir schon in negativer Erwartungshaltung - „och Herbst…“ – in sie hineinschlittern.“ Für Eike Treis-Hoffmann jedenfalls macht ein „Hallo“ Lust. Auf ein Ankommen im Hier und Jetzt, auf Spaziergänge in knackiger Kälte und gemütliche Stunden bei Kerzenschein – im Einklang mit der Natur und dem eigenen Biorhythmus.