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Die Welt muss in den Mund: Die glitzernde Armbanduhr der Tante, der Duplo-Legostein auf dem Teppich, der herrlich krümelige Sand im Sandkasten – all das lässt sich mit babyzarten Lippen und einer winzigen Zunge viel besser ­fühlen und ertasten als mit noch ziemlich ­ungeschickten kleinen Wurstfingern.

Uns Eltern fordert diese sogenannte Mundel-Phase einiges ab. Vor allem: nicht daran zu denken, was an all den Sachen alles klebt – oder kleben könnte. Schweiß und Schmutz, okay, das hält man ­gedanklich noch aus. Aber Viren, Bakterien oder Wurmeier, Milben oder Mikroben sind schon etwas, das einem den Angstschweiß auf die Stirn treiben könnte. Das Kind ist doch noch so klein! Wie soll sein unbedarftes Immunsystem mit diesen hässlichen Sachen nur fertigwerden?

Das Immunsystem als Art Sinnesorgan für die Umwelt

Die gute Nachricht: Ganz so unbedarft ist die Immunität von kleinen Kindern gar nicht. Schon wenn ein Baby geboren wird, besitzt sein Körper ein ganzes Arsenal an Zellen und Stoffen, die ausschließlich dafür da sind, mit allerlei Dreck fertigzuwerden. Man kann sich das Immunsystem dabei als eine Art Kriegsapparat ­vorstellen, der kleine wie große Menschen mit verschiedenen Waffen verteidigt.

Es geht aber auch etwas weniger militärisch – so kann man das Immunsystem als Sinnesorgan für unsere Umwelt betrachten. Und zwar für den kleinsten, unsichtbaren Teil der Umwelt. So wie etwa der Tastsinn eines Menschen über zahllose Nerven-Endigungen erfühlt, ob ein Gegenstand hart oder weich, scharf oder stumpf ist, tastet das Immunsystem mit seinen Zellen und Stoffen alles ab, was winzig ist: Bakterien, Viren, mikroskopisch kleine Pilze und Parasiten. Es scannt und sortiert. Was sieht okay aus, was nicht? Wo muss das Reinigungskommando hin, wo ist es unnötig? Dann wird aufgeräumt. Diese Viren dort müssen raus, einmal den Bakterienmüll ­abholen, bitte!

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Der Unterschied zwischen angeborener und adaptiver Immunität

Möglicherweise ist das Immunsystem also auch einfach der Hausmeister, der einen ziemlich komplexen Laden am Laufen hält. Doch die Hausmeisterei ist – zumindest im menschlichen Körper – ein Ausbildungsberuf. Und diese Ausbildung fängt sehr früh an. Nämlich schon bevor das Herz des neuen Menschen zu schlagen beginnt. Vier Wochen etwa ist ein Embryo alt, wenn er seine ersten Immunzellen bildet.

Dabei handelt es sich erst mal um die Basics, um die sogenannte angeborene Immunität. Sie stellt später den ­Notfallkoffer für Situationen bereit, in denen Mückenstiche, Schürfwunden oder Dreck in der Nase das Wohlbefinden stören. Im Bauch der Mutter fällt das Kind zwar noch nicht vom Fahrrad. Aber schon jetzt kommt es mit allerlei merkwürdigen Sachen in Kontakt.

Da sind zum einen Reste von allerlei ­Mikroben, die es durch die Plazenta schaffen. Und zum anderen ist da die ­Mutter selbst: Weil im Erbgut des Babys eine Hälfte vom Vater stammt, sind sich die Schwangere und das Kind zunächst genetisch fremd. Man lernt sich erst kennen. Auch daran ist das Immunsystem des Fetus beteiligt – und zwar mit der Erstausstattung des sogenannten adaptiven, also anpassungsfähigen Immunsystems. Es wird später dafür sorgen, dass Impfungen wirken, viele Viren kein zweites Mal krank machen und das Kind ein Immungedächtnis entwickelt.

Vorerst üben sich die zugehörigen Zellen – sie heißen T-Zellen und B-Zellen – in einer wichtigen anderen Disziplin: ­Toleranz. Nicht alles, was neu aussieht oder fremd, ist schädlich. Also jetzt bloß nicht ­überreagieren, sondern Ruhe bewahren.

Geburt als „Katastrophe“ fürs Immunsystem des Babys

„Das Immunsystem eines Kindes ist vor der ­Geburt im Grunde perfekt“, sagt Professor ­Philipp Henneke vom Universitätsklinikum in Freiburg. Die Aufgaben, die der Fötus im Mutterleib zu bewältigen habe, seien aber eben auch andere als später, wenn das Kind auf der Welt ist. „Die Geburt ist deshalb in gewisser Weise eine Katastrophe“, so der Kinderimmunologe und -infektiologe.

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Mit einem Schlag kommt das Neugeborene mit wirklich fremden Dingen in Kontakt. Kaum ist das Baby raus aus dem fast keimfreien und gut temperierten Fruchtwasser, prasseln Staub, Bakterien, Nahrung, Sauerstoff auf Lunge, Darm und Haut. Und kalt ist es auch. Da kommt selbst das sehr flexible Immunsystem des Neugeborenen an seine Grenzen.

Aber auch die schwache Abwehr am Lebensanfang hat einen Sinn, sagt Henneke. „Immunreaktionen benötigen sehr viel Energie – das Kind aber braucht alle Energie, um zu wachsen.“ Das unreife Immunsystem spart diese Energie zunächst ein – und kann sich das auch leisten. Warum? Weil es während der Schwangerschaft Unterstützung von der Mutter bekommen hat.

Drei Monate lang Nestschutz dank Immunsystem der Mutter

„Die Mutter pumpt über die Plazenta ganz gezielt sogenannte Antikörper in das ungeborene Kind“, erläutert Henneke. Diese Immunstoffe schaffen gemeinsam mit mütterlichen Enzymen und anderen Substanzen den Nestschutz. Er wird das Baby etwa drei Monate vor einiger Unbill bewahren, etwa so lange, wie das eigene Immunsystem des Babys braucht, um sich an die neue Situation anzupassen.

Und noch etwas ist wichtig für das Neugeborene: Es braucht eine innere und äußere Schutzschicht aus freundlichen Bakterien, die der weniger freundlichen Bakterienverwandtschaft prophylaktisch den Platz wegnehmen. Einen Teil dieses Mikrobioms erhält das Kind bereits während des Geburtsvorgangs aus der Vagina und dem Enddarm der Mutter.

Kaiserschnitt-Babys fehlt diese erste Portion mikrobieller Siedler zunächst. Zum Glück gibt es aber noch weitere Wege, um die Besiedlung des Babys mit guten Mikroben zu fördern. „Stillen zum Beispiel ist nicht nur wegen der vielen guten Stoffe in der Muttermilch positiv fürs Immunsystem des Kindes“, sagt Henneke. „Es fördert über den engen Hautkontakt auch eine mikrobielle Gemeinschaft mit der Mutter.“ Das fange schon beim ersten Anlegen im Kreißsaal an.

Doch was, wenn es mit dem Stillen nicht klappt? „Stillen ist ganz klar das Beste fürs Kind und sollte immer versucht werden“, sagt der Kinderarzt. „Aber natürliche Geburt und Muttermilch sind keine exklusiven Faktoren.“ Ein Flaschenkind könne sich genauso gesund entwickeln, wenn zumindest der enge Körperkontakt da sei.

Mit jeder Erkältung lernt das kindliche Immunsystem dazu

Dass freundliche Bakterien das Immunsystem unterstützen, ist gut und schön. Aber krank werden kleine Kinder trotzdem, und zwar häufiger, als es in den Familienalltag passt. Mal ganz ­abgesehen von den Sorgen. Kann man denn den Abwehrkräften der Kleinen nicht bitte ein ­bisschen unter die Arme greifen? Mit Saft, ­Vitaminen, irgendwas Natürlichem? Leider nein. „Das Immunsystem seines Kindes kann man nicht direkt stärken“, sagt Dr. Karella Easwaran, die als niedergelassene Kinderärztin in Köln tätig ist und mehrere Bücher über Kindergesundheit geschrieben hat.

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„Man kann es aber unterstützen und besser vorbereiten auf künftige Herausforderungen.“ Die vielen Infekte im Kita-Alter – sorry, liebe Eltern – sind anstrengend, aber mit jeder Erkältung und jedem gemeinen Magen-Darm-Infekt lerne das Immunsystem des Kindes dazu. Zwölfmal Schnief, Schleim und Durchhängen in einem Winter sind so ­gesehen keine Heimsuchung, sondern eine Art Trainingslager. So wenig tröstlich das auch ­erscheint.

Immuntraining: Impfen statt Virenpartys

Ist dann also jede Krankheit, jedes Training gut? „Alle Infekte sollte man sicher nicht ­mitnehmen“, sagt Karella Easwaran. Insbesondere Masernpartys seien eine Gefahr für die Gesundheit der Kleinsten, wegen der möglichen Spätfolgen. Die reichen von Ohrenentzündungen bis hin zu zwar seltenen, aber doch tödlichen Verläufen. ­Insbesondere für kleine Babys können Masern und andere Kinderkrankheiten wie Keuchhusten gefährlich werden, weil der Nestschutz diese Infektion nicht verhindern kann.

Umso wichtiger sind die Impfungen. Und natürlich fällt es uns schwer, wenige Monate alten Babys diese nicht gar wenigen Spritzen zuzumuten. „Ich kann das emotional nachvollziehen“, sagt der Kinderimmunologe Henneke. „Aber das, wogegen wir im ersten Lebensjahr impfen, sind Erkrankungen, die wirklich schwer verlaufen, Spuren hinterlassen und sogar Leben kosten können.“

Ausgewogene Ernährung stärkt das Immunsystem

Rotznasen, Brechdurchfall und Impfungen stärken also auf lange Sicht. Was aber, wenn das Immunsystem der Kleinen anfängt, auf Stoffe zu reagieren, die im Grunde ungefährlich sind – etwa auf Hühnereiweiß oder Nüsse? „Die ­Ernährung spielt für die Entwicklung des Immunsystems eine ganz zentrale Rolle“, sagt Prof. Kirsten Beyer von der Berliner Charité. Gerade das Abwehrsystem im Darm muss ja lernen, dass die vielen verschiedenen Nahrungsmittel okay sind für den Körper.

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„Kindgerechte Vielfalt ist deshalb schon bei der ­Beikost wichtig“, so Beyer. Nahrungsmittel wie Erdnüsse oder Eier aus Angst vor Allergien wegzulassen, sei dagegen zwar gut gemeint, aber genau falsch. Schließlich kommen allergische Mädchen und Jungen nicht mit ihren Allergien auf die Welt, sondern höchstens mit einer erblichen Neigung dafür. Sie entwickeln die Überreaktion erst mit der Zeit – und bei Nahrungsmitteln entsteht sie vermutlich oft über die Haut.

Der Grund ist, dass sich im Hausstaub eine Vielzahl von Nahrungsmittelallergenen finden – und die können bei manchen Kindern Probleme machen. „Bei Kindern mit Neurodermitis, deren Immunsystem noch kein Hühnereiweiß über die Ernährung kennengelernt hat, kommt trotzdem die Haut mit diesem Eiweiß in Kontakt“, erklärt Kinderallergologin Beyer.

Und weil die Schutzbarriere durch die Neurodermitis brüchig sei, bildeten sich über die Haut dann Allergieantikörper. „Der Körper lernt das Hühnereiweiß einfach auf dem falschen Weg kennen“, so die Expertin. Die Leitline zur Allergieprävention empfiehlt, der ­Beikost schon früh kleine Mengen hart gekochtes Hühnerei hinzuzufügen, um Allergien entgegenzuwirken.

Die Welt muss also wirklich in den Mund. Der nasse Sand, die verschwitzte Uhr, das Spielzeug in der Kita, das gepellte Ei und viel mehr. Aufpassen werden wir Eltern natürlich trotzdem – und auch Ausspucken will gelernt sein. Schutz vor den wirklich gefährlichen Keimen bietet oft eine Impfung. Und mit etwas Gelassenheit und Matsche können selbst Erwachsene noch was für den Hausmeister im eigenen Körper tun. Der lernt nämlich ein Leben lang.

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Quellen:

  • Socha P, Utnik-Strugala M : Das Buch vom Dreck, Eine nicht ganz so feine Geschichte von Schmutz, Krankheit und Hygiene . Gerstenberg Verlag: https://www.gerstenberg-verlag.de/... (Abgerufen am 01.12.2023)
  • Schooltink H: Zwischen zwei Welten, Neonatales Immunsystem. Pharmazeutische Zeitung: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/... (Abgerufen am 11.12.2023)
  • Zhang X, Zhivaki D, and Lo-Man R.: Unique aspects of the perinatal immune system, EARLY LIFE IMMUNOLOGY. Nat Rev Immunology: doi: 10.1038/... (Abgerufen am 11.12.2023)