Ein Placebo berichtet im Interview: „Meine Magie wirkt immer mit“
Was ist ein Arzt ohne sein Stethoskop? Eine Chirurgin ohne ihr Skalpell? Oder gar eine Apothekerin ohne Medikamente? Sie können nicht ohne einander. In der Gesundheitsberichterstattung werden die einzelnen Instrumente, Geräte und Arzneimittel dennoch oft zu wenig berücksichtigt. Anders in der Kolumne von Sonja Gibis. Hier kommen die Gegenstände selbst zu Wort und berichten humorvoll aus ihrer Geschichte und ihrem Alltag. In dieser Folge: das Placebo.
In wissenschaftlichen Studien sind Sie ein Stammgast. Doch Sie sind mir noch immer ein Rätsel. Was schon bei Ihrem Namen beginnt: Darf ich fragen, was er bedeutet?
Wer Latein gelernt hat, dürfte es wissen: „Placebo“ bedeutet „Ich werde gefallen“. Und ich garantiere Ihnen, dass meine Wirkung den Menschen gefällt. Etwa, wenn sie Rückenschmerzen haben. Auch wenn sie unter Migräne leiden, ständig müde sind. Sogar Schuldgefühle kann ich dämpfen.
Eine Pille, die gegen Schmerzen und Schuldgefühle wirkt? Das klingt ja fast nach Magie.
Ich will nicht prahlen: Aber ich bin ein echter Allrounder. Das geht aber nur, weil ich auf einem anderen Weg funktioniere als „richtige“ Pillen, die einen Wirkstoff enthalten.
Ja, auf dem der Einbildung …
Spotten Sie nicht! Die Einbildungskraft ist sehr mächtig. Doch meine Wirkung ist genauso wirklich wie die jeder anderen Tablette. Auch wenn man mich oft als „Scheinmedikament“ bezeichnet: Ich bin viel mehr Sein als Schein. Lassen Sie uns einen kleinen Test machen. Sie lieben doch bestimmt Schokokuchen.
Klar, aber was tut das zur Sache?
Jetzt seien Sie doch nicht so ungeduldig. Schließen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich vor, dass ein duftendes Stück Kuchen vor Ihnen steht. Noch warm, weil es gerade aus dem Ofen kommt.
Schluss damit! Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.
Sehen Sie! Das ist die Macht der Einbildungskraft. Die Vorstellung war nur in Ihrem Kopf. Kein Kuchen, kein Duft. Und dennoch reagiert Ihr Körper.
Aber das kennt doch jeder.
Eben. Und genauso müssen Sie sich das vorstellen, wenn Sie Schmerzen haben. Ihr Körper ist dagegen nicht wehrlos. Er besitzt sozusagen eine eigene Apotheke, zu der auch schmerzlindernde Stoffe gehören. Zum Beispiel Endorphine. Wenn man mich einnimmt und erwartet, dass ich die Schmerzen lindere, schüttet der Körper solche Stoffe aus. Das kann man sogar nachweisen.
Sie sagten: wenn man eine Wirkung erwartet. Wenn ich Sie jemandem heimlich unters Essen mische, wirken Sie also nicht? Bei einer echten Schmerztablette wäre das ja der Fall.
Stimmt. Die Erwartung ist für meine Wirkung sehr wichtig. Aber auch die „echte“ Schmerztablette, wie Sie sagen, würde ohne Gedankenkraft nicht so gut wirken. Ich stehe hier zwar als Pille vor Ihnen. Doch die Magie des Placeboeffekts läuft immer mit, die gibt es bei jeder Therapie. Je mehr Sie an die Wirksamkeit einer Behandlung glauben, desto besser funktioniert sie.
Aber wie weiß ich dann, ob eine Pille mehr ist als ein Placebo?
Eine sehr gute Frage. Wenn Sie die Pille von einer Ärztin oder einem Arzt erhalten, können Sie da sicher sein. Bei neu entwickelten Medikamenten ist das aber gar nicht leicht zu erkennen. Deswegen muss jedes neue Arzneimittel in wissenschaftlichen Studien gegen mich antreten. Die Testpersonen und selbst die Studienärzte und -ärztinnen wissen nicht, was das Placebo ist und was das Mittel mit dem Wirkstoff. Nur wenn ein Medikament besser wirkt als ich, weiß man, dass dahinter nicht nur die Apotheke aus dem eigenen Körper steckt.
Aber ist die körpereigene Apotheke nicht die allerbeste?
Sagen wir: Sie ist eine wirklich tolle Sache. Doch reicht sie leider manchmal nicht aus. Deshalb gibt es die Medikamente mit den echten Wirkstoffen aus der echten Apotheke. Kranke können auf sie vertrauen – und auf die Magie des Placeboeffekts, welche die Heilkraft der Arzneien zusätzlich verstärkt.