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Eigentlich war von Anfang an klar: Unser Kind wird eines Tages eine Brille brauchen. Schließlich sind beide ihrer Elternteile Brillenträger. Und damit meine ich nicht "Ich brauche eine Brille zum Autofahren"-Brillenträger, sondern "Ich erkenne nicht einmal, wo das Auto steht"-Blinde. Die nur Dank gut geschliffener Gläser nicht aussehen wie die der Witzfiguren aus einem Comic.

Nie mehr Blindschleiche!

Die ersten Lebensjahre dachten wir noch, Marlenes Augen kämen aus einem anderen Gen-Pool: Sie sah wie ein Luchs. Auf hundert Meter erkannte sie ein Kaugummi-Papier am Boden. Sie kniff nie die Augen zusammen. Blinzelte nicht auffällig. Unsere Tochter hatte voll den Durchblick! Bis zu dem Moment als sie beim Kinderarzt einen Sehtest machen musste. "Sag mir doch mal, welche Zahl du siehst, Marlene", forderte sie die Ärztin auf. Ganz siegessicher blickte ich auf die zwei Meter entfernte und zehn Zentimeter große "3" auf der Tafel. "Acht? Oder nein: fünf? Hmm, oder null?", rätselte sie. Okay, dachte ich, das war's dann wohl. Adieu, brillenlose Zeit...

Dabei hätte mir doch klar sein müssen, dass der Tag kommen würde. Bei mir war das damals ähnlich. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich lange Zeit um eine Brille herum mogelte. Als ich in die Schule kam, saß ich ganz hinten. Damit nicht auffiel, dass ich rein gar nichts an der Tafel erkennen konnte, lernte ich alles auswendig, was die Lehrerin sagte. Die ersten beiden Schuljahre kam ich ohne Brille durch – weder meine Eltern noch meine Lehrerin haben etwas gemerkt. Aber irgendwann konnte ich mein Blindschleichen-Dasein nicht mehr verbergen. Immer öfter stolperte ich über Gegenstände und das mit dem Auswendiglernen klappte nach einiger Zeit auch nicht mehr.

"Die Brille stört!"

Marlene bekam ihre erste Brille glücklicherweise bereits im Kindergarten. Damit blieb ihr die Auswendiglernerei und das stete Bemühen erspart, wie ein Normal-Sehender zu wirken. Und ohne, dass ich mir das als Motivations-Mantra einreden musste: Ich fand, dass sie mit der kleinen roten Brille entzückend aussah! Meine Tochter sah das leider etwas anders: Die Brille störte sie einfach nur. Im Kindergarten, auf dem Spielplatz, beim Herumtoben und überhaupt: Sie war die einzige mit Brille. Zwölf Monate schleppten wir die Sehhilfe mehr schlecht als recht durchs letzte Kindergartenjahr.

Kurz vor der Schule kam dann der zweite Sehtest. Marlenes Sehvermögen hatte sich verschlechtert. Stabsichtigkeit, das auch noch. Die Anweisungen der Augenärztin waren mehr als eindeutig: Wenn Marlene die Brille in der Schule nicht konsequent trägt, wird man den Sehfehler nicht mehr vollständig korrigieren können. Auch nicht mit Brille. Ich dachte an meine sinnlosen Mogel-Strategien als Kind und mir wurde schlecht.

Schickes Accessoire?

Auch bei meiner Tochter saß die Predigt der Augenärztin. Ihre neue Brille trägt sie seit Schulbeginn von morgens bis nachmittags. Dann nimmt sie sie meistens für eine Stunde ab. Abends zum Lesen setzt sie sie wieder auf. Die Brille ist immer noch nicht ihr bester Kumpel. Zumal sie – wie könnte es auch anders sein – in ihrer Klasse die einzige mit Brille ist. Gehänselt wurde sie aber deswegen noch nie. Auch ein Umstand, der sich glücklicherweise seit meiner Kindheit geändert hat.

Marlene hat ihre Brille akzeptiert. Nicht zuletzt deswegen, weil sie festgestellt hat, dass sie damit tatsächlich besser sieht. Und weil es jetzt offensichtlich selbst bei Kindern schon den Trend gibt, glaslose Nerd-Brillen als Accessoire zu tragen. Da fühlt sie sich dann schon fast ein bisschen erhaben. Sie ist schließlich eine "echte" Brillenträgerin.