Sehnsucht nach ganzheitlicher Behandlung
Das Wartezimmer beim Arzt ist überfüllt. Endlich wird man aufgerufen, um wenig später enttäuscht die Praxis zu verlassen. Der gestresste Arzt hat einen kaum angeschaut, nicht aufmerksam zugehört, den Patienten schon nach kürzester Zeit unterbrochen. Schnell hat er sein Urteil abgegeben – fachlich korrekt, aber für den Patienten vollkommen unverständlich.
Patienten fühlen sich beim Heilpraktiker besser aufgehoben
Professorin Jana Jünger erstaunt es nicht, dass viele so eine Art von Behandlung ablehnen und lieber zum Heilpraktiker eilen: "Da fühlen sie sich aufgehoben. Jeder will schließlich als Individuum gesehen werden. Das bekommt man hier manchmal vermittelt."
Die Direktorin des Mainzer Instituts für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen betont aber: "Die Wirkung von vielen Dingen, die beim Heilpraktiker angeboten werden, ist eher gering oder bis auf den Placebo-Effekt nicht vorhanden."

Professorien Jana Jünger bereitet Medizinstudenten darauf vor, Patienten ganzheitlich zu behandeln
© W&B/Andreas Reeg
Die Arzt-Patienten-Kommunikation sei wichtig, damit kranke Menschen sich verstanden fühlen. Dass viele Mediziner lernen müssen, den gesamten Menschen mit seinen Anliegen wahrzunehmen, steht für Jana Jünger außer Frage.
Patienten ist Empathie wichtig
Auch 59 Prozent der Deutschen – besonders häufig Frauen – wünschen sich inzwischen, dass alternative Methoden "unbedingt ein Teil der Schulmedizin" werden, wie die aktuelle Umfrage für die Apotheken Umschau ergeben hat (siehe unten). Häufig steht für die Befragten dabei das zwischenmenschliche Verhältnis zum Behandler im Vordergrund und weniger die spezielle Therapieform.
Knapp die Hälfte aller Deutschen schätzt Ärzte oder Heilpraktiker, die alternative Verfahren anbieten, da sie sich "viel mehr Zeit nehmen". Zugleich gelten sie vielen als empathischer. Fragen können hier gestellt werden, die ansonsten unbeantwortet bleiben, Erstgespräche dauern in der Regel länger.
Allgemeinmediziner in Deutschland haben dagegen im Schnitt aufgrund der schlechten Vergütung von Gesprächszeiten nur 7,5 Minuten pro Konsultation zur Verfügung. Das hat bereits 2017 ein internationales Forscherteam ermittelt.
Positives Selbstbild unterstützen
Expertin Jünger betont, wie wichtig es ist, dass Ärzte ihre knappe Zeit trotzdem besser nützen. Sie bereitet angehende Mediziner darauf vor, den Menschen als Ganzes zu behandeln – und nicht nur die Stelle, die wehtut. Laut Umfrage schätzen drei Viertel der Frauen in Deutschland alternative Heilmethoden gerade deshalb, weil diese Körper und Seele zugleich ansprechen.
Es gehe darum, dass selbst schwer kranke Patienten in einem positiven Selbstbild unterstützt würden und nicht die Defizite im Vordergrund stünden, erklärt Jünger. Ärzte könnten beispielsweise bei einem Patienten feststellen, dass "die Leistungskraft des Herzens eingeschränkt" sei, aber zugleich betonen, "was alles gesund ist". Für viele Mediziner noch Neuland.
Warum sind alternative Heilmethoden so beliebt?
(Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen möglich)
Fast zwei Drittel der Deutschen geht laut aktueller Umfrage zudem davon aus, dass besonders die alternativen Heilmethoden die körpereigenen Kräfte zur Selbstheilung stärken. Viele Anwendungen, wie zum Beispiel Wickel, kommen dem menschlichen Bedürfnis entgegen, selbst etwas für die eigene Gesundheit und die Genesung zu tun. "Der Patient merkt hier: Oh, ich kann selbstwirksam werden", berichtet Stefanie Joos vom Akademischen Zentrum für Komplementäre und Integrative Medizin.
Nebenwirkungen fallen nicht immer geringer aus
Die vermeintlichen Vorteile alternativer Verfahren haben aber ihre Tücken. Dort, wo die Medizin schwer verständlich bleibt, bieten dubiose Heiler einfache, aber häufig falsche Erklärmodelle. So ergab eine Befragung im Auftrag der AOK, dass jeder vierte Kassenpatient mit den Empfehlungen seines Arztes nichts anfangen konnte.
Mitunter entwickeln Patienten dann ihre "subjektive Krankheitstheorie", sagt Joos. Häufig wollen sie zunächst mit etwas "Sanftem" gegensteuern. 62 Prozent der Deutschen glauben, dass alternative Therapieverfahren generell geringere Nebenwirkungen haben als die konventionelle Medizin. Doch nicht immer ist das der Fall.
Kommunikation ist alles
Naturheilkundler Gustav Dobos etwa warnt vor Wechselwirkungen. "Manche Pflanzenheilmittel beeinflussen bestimmte Leberenzyme, was dazu führen kann, dass andere Medikamente weniger oder sogar stärker wirken."
Wer beispielsweise Johanniskraut-Präparate einnimmt, um die bei einer Chemotherapie auftretenden Depressionen zu lindern, gefährdet die Wirksamkeit der Krebsbehandlung. Auch für Patienten gilt daher: Sie sollten die Kommunikation mit dem Arzt verbessern und ihren Wunsch nach Naturheilverfahren unbedingt mit ihm besprechen.