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Frau Dr. Hirschfelder, was sind die Gründe dafür, dass Kinder schlecht hören?

Geschätzt haben mindestens zwei bis drei Prozent aller Menschen in Europa eine genetische Veränderung, die zu einer Hörstörung führen kann. Die meisten bleibenden Hörstörungen werden einfach vererbt. Da muss nicht mal ein anderes Familienmitglied schlecht hören. Manchmal ist einfach zu wenig Glück dabei.

Seit 2009 gibt es bundesweit das Hörscreening bei Neugeborenen bis zum zehnten Lebenstag – ­warum wird so früh untersucht?

Wir können damit viele Hörstörungen sehr früh erkennen und besser behandeln. Etwa ein bis drei von 1000 Kindern haben eine angeborene und bleibende Hörstörung. Je früher wir Maßnahmen ergreifen, umso weniger Nachteile haben diese Kinder in ihrer sprachlichen, kognitiven und psycho­sozialen Entwicklung.

Wie läuft das Hörscreening denn ab?

Der Säugling bekommt kurz eine Art In-Ear-Kopfhörer ins Ohr gesteckt, ein hochempfindliches Messgerät, das ­Außen-, Mittel- und Innenohr bis zu den äußeren Haarzellen untersucht. Das Baby hört relativ laute Klickgeräusche hintereinander, und wir messen die Antworten der Haarzellen darauf. Bei Auffälligkeiten oder bei Risikokindern macht man eine sogenannte automatisierte Hirnstammaudiometrie (AABR). Dabei wird geprüft, wie der Hirnstamm auf Hörreize reagiert, ob er die akus­tischen Signale richtig ver­arbeiten kann.

Was sind denn Risikofaktoren für eine Hörstörung?

Schwerhörigkeit in der Familie, Fehlbildungen des Kopfes oder der Ohren, Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen – Sauerstoffunterversorgung beispielsweise –, Infektionen oder Stoffwechselstörungen. Es gibt eine zwölf Punkte lange Liste.

Wird das Screening bei jedem ­Neugeborenen gemacht?

Die Eltern können es ablehnen. Aus meiner Sicht ist es aber unbedingt empfehlenswert. Das frühkindliche Gehör reift nur durch Stimulation. Verkürzt gesagt: Ein Baby muss hören, um sich gut entwickeln zu können.

Ab wann spricht man überhaupt von einer Hörstörung?

Wir betrachten einen Hörverlust von 20 Dezibel als kritischen Wert.
Das ist in etwa wie das entfernte ­Summen einer Mücke. Oder leises
Blätterrascheln. Flüstern hat etwa 30 Dezibel, ein normales Gespräch etwa 50 bis 60.

Viele Hörstörungen lassen sich – früh erkannt – sehr gut ausgleichen.

Welche Hörstörungen gibt es im Kindes­alter?

Hochgradige Schwerhörigkeiten sind selten, häufiger sind die geringen und mittelgradigen Störungen, die sich wirklich gut ausgleichen lassen. An erster Stelle stehen die sogenannten Schallempfindungsschwerhörigkeiten, das sind die häufigsten bleibenden Hörstörungen bei Kindern. Sie werden durch Innenohrschädigungen oder Schädigungen des (Hör-)Nervensystems hervorgerufen. Betroffene hören meist leiser, verzerrt oder verwaschen. Dann kommen noch bei einem knappen Drittel der Babys Schallleitungsschwerhörigkeiten vor, bei denen die Übertragung von Sprache und Geräuschen im äußeren Gehörgang oder im Mittelohr gestört ist. Diese Art von Hörstörung tritt meistens vorübergehend auf – als Folge einer Mittelohrentzündung etwa und macht nur zwischen fünf und zehn Prozent aller bleibenden Schwerhörigkeiten aus. Dabei hören die Betroffenen vor allem leiser.

Gibt es auch Kombinationen?

Ja, meistens ist aber eine vorrangig.

Wie und wann bildet sich das ­frühkindliche Gehör genau aus?

Um die 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Hörschnecke zu funk­tionieren, rund sechs Wochen später ist sie voll ausgebildet. Ab da kann der Embryo Geräusche wahrnehmen. Es gibt ein sensibles Fenster für die Reifung des Gehörs, das liegt zwischen drei Monaten vor der Geburt und dem dritten Lebensjahr. Verpasst man in diesem Fenster die Therapie, erreicht man keine normale Hörentwicklung mehr. In dieser Phase ist das Gehör auch für Schädigungen sehr anfällig.

Schädigungen welcher Art?

Die erwähnten Geburtskomplikationen. Ein Gehör leidet auch, wenn es nicht genügend oder zu viele zu laute Reize bekommt. Die Nervenbahnen fürs Hören, die nicht genug genutzt werden, werden zwischen dem vierten und 15. Lebensjahr zu 50 Prozent ausgedünnt. Die sind dann unwiederbringlich verloren.

Dann muss man auf eine ­wach­same Kinderärztin oder
den Kinderarzt hoffen …

Bei der U 2 wird das Gehör getestet, routinemäßig dann erst wieder bei der U 8. Die hat man mit vier Jahren, das ist aus unserer Sicht zu spät.

Also sollten die Eltern mit darauf achten, ob das Baby hört. Nur wie?

Das ist bei den ganz Kleinen nicht ganz einfach. Ein Neugeborenes, das taub ist, reagiert nämlich genauso wie ein gesundes. In den ersten Lebensmonaten kriegt man ohne Test nahezu nicht raus, ob ein Baby schlecht oder gut hört. Alle reagieren auf Wind, Vibra­tionen, Berührungen. Auch das angeborene Lallen oder Gurren ist leider kein Hinweis auf ein gesundes Gehör, denn das machen ebenfalls alle. Aber zwischen dem achten und zehnten Lebensmonat, da verstummen die Kinder, die nicht gut hören können.

Wie kann ich vorher testen, ob mein Kind hört oder nicht?

Nicht mit Klatschen, wie viele denken. Auch hinter dem Rücken erzeugt das einen wahrnehmbaren Windstoß. Aber wenn sich ein Kind nicht durch die Stimme der Eltern beruhigen lässt, könnte das ein Anzeichen sein. Oder wenn es auf die Türklingel nicht reagiert. Zwischen dem sechsten und neunten Lebensmonat, wenn es den Kopf halten kann, sollte sich das Baby zur Schallquelle wenden. Passiert
das nicht, unbedingt in die Kinderarzt­praxis gehen. Die Eltern haben oft so ein Gefühl und meistens stimmt es.

Die meisten Kinder hüten ihr Hörgerat wie einen Schatz. Es eröffnet ihnen einen ganz neuen Sinneskanal.

Am meisten verbreitet sind Hinter-­dem-Ohr-Geräte. Es gibt sie für verschiedene Hörverlustgrade. Je nach Wachstum muss das Ohrpassstück immer wieder angepasst werden, bei den ganz Kleinen also oft. Die meisten starten mit solchen Geräten. Sie sind leistungsfähig und robust.

Gibt es dazu auch Alternativen?

Ja. Bei stark beeinträchtigten Kindern reichen die Hörgeräte nicht aus. Diese bekommen mit etwa neun bis zwölf Monaten Cochlea-Implan­tate. Auch wenn die Schwerhörigkeit erst sehr spät entdeckt wird, überspringt man die Hörgerätezeit. Bei der Operation wird eine Elektrode in die ­Hörschnecke implantiert, das dauert etwa anderthalb Stunden. Trotzdem hat man ein Gerät an Ohr und Kopf. Wenn nach vier Wochen alles abgeheilt ist, wird das Gerät zum ersten Mal angeschaltet. Das ist immer ein sehr emotionaler Moment. Den Kindern eröffnet sich ein völlig neuer, zusätzlicher Sinneskanal.

Wie schnell gewöhnen sich die Kinder an die Geräte?

Sehr schnell. Meist haben die Eltern größere Probleme damit. Die Kinder akzeptieren das super, behandeln ihr Hörgerät wie einen Schatz, weil es ihnen eine viel größere Teilhabe an der Welt ermöglicht. Manche können ihres mit zwei Jahren schon selbst einsetzen, andere brauchen länger.

Mit der Geräteversorgung allein ist es aber nicht getan, oder?

Stimmt. Es reicht nicht, sich kurz mit allen zu freuen. Wichtig sind begleitende Hör- und Sprachtherapie. Auch die Eltern bekommen ein Extratraining. Man bringt ihnen bei, optimal mit dem Kind zu kommunizieren, also ausreichend Sprache in guter Qualität anzubieten, die Kleinen nicht zu verbessern, viel positives Feedback zu geben. Auch ist es sinnvoll, die Gebärdensprache zu lernen, also auf mehreren ­Kanälen mit dem Kind kommunizieren zu können. Von uns Ärztinnen und Ärzten wird das Hören regelmäßig überprüft und die Technik laufend angepasst.

Mit zunehmendem Alter ändert sich vermutlich die Beziehung zum Hörgerät?

In der Pubertät wird es manchmal schwierig. Dort wird das Gerät zum ersten Mal als Stigma wahrgenommen, als störend. Man will als Jugendlicher sein wie alle anderen. Vieles hängt in dieser Phase vom Umfeld ab – den Freunden, Verwandten, Erziehenden und Lehrenden. Je normaler das Kind behandelt wird, umso mehr vergisst es die vermeintliche Beeinträchtigung. Was mich immer wieder begeistert, ist, wie schnell die Kinder aufholen. Bei früher Versorgung und guter Förderung wird der anfängliche Gap zu Gleich­altrigen ganz schnell immer kleiner.