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Wer die Gründe für die Lieferpro- bleme bei Medikamenten verstehen will, muss mehrere Dinge wissen: Warum Wirkstoffe vor allem in ­Asien produziert werden. Warum sich für manchen Hersteller das Geschäft mit Medikamenten nicht mehr lohnt – und was sogenannte Rabattverträge damit zu tun haben.

Dass ein Großteil der Arzneistoffe für Medikamente vor allem in China und Indien ­produziert wird, zeigen auch die Zahlen: 68 Prozent der Produktionsstätten der für Europa bestimmten Wirkstoffe stehen in Asien. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die das Institut der deutschen Wirtschaft zusammen mit dem Healthcare Supply Chain Institute für den Pharmaverband VFA erstellt hat. Der Grund: die Kosten. Hinzu kommt: Auch vor Ort konzentriert sich die Produktion oft auf nur wenige Regionen. Diese Entwicklung sei eine Herausforderung, aber nicht allein von Nachteil, wie Gesundheitsökonom Professor Volker Ulrich von der Universität Bayreuth erklärt. „Die Produktion im Ausland hat ja auch Vorteile“, sagt er. „Wir profitieren von einer weltweiten Arbeitsteilung.“ So führe die Globalisierung zu günstigeren Medikamenten – aber eben auch zu Liefereng­pässen. Betroffen davon sind vor allem sogenannte Generika: Medikamente mit Wirkstoffen, deren Patentschutz abgelaufen ist. Sie decken 79,1 Prozent des Arzneimittelbedarfs in Deutschland. Kaum ein Bereich ist dabei so stark reguliert wie die Generikabranche. Die Preise sind meist über Festbeträge gedeckelt, oft zahlen Krankenkassen nur wenige Cents für eine Tablette. Auch bei Ausschreibungen der gesetzlichen Krankenkassen gewinnt nur der Hersteller mit dem günstigsten Preis. Wer nicht mithalten kann, geht leer aus und zieht sich nicht selten ganz aus der Produktion zurück. Welche Folgen das haben kann, zeigt das Beispiel des Blutdrucksenkers Valsartan. Die Herstellung konzentriert sich weltweit auf nur noch wenige Unternehmen im asiatischen Raum. Bei einem davon war es 2018 zu Verunreinigungen in der Produk- tion gekommen. Die Firma versorgte verschiedene Arzneimittelhersteller auf der ganzen Welt mit dem Wirkstoff – und konnte plötzlich nicht mehr liefern. Mehr noch: Es wurden auch alle Medikamente zurückgerufen, die das verunreinigte Valsartan hätten enthalten können. Allein in Deutschland betraf das damals satte 40 Prozent der Präparate.

Gesundheitsökonom Ulrich betrachtet Entwicklungen wie diese darum seit Jahren mit Sorge. „Der Kostendruck führt immer häufiger zu Konzentrationsprozessen“, sagt er. Ein gutes Beispiel dafür ist der Mangel am Medikament Tamoxifen Anfang 2022. Im Wesentlichen vier Unternehmen produzierten das Brustkrebsmedikament noch zu Jahresbeginn für den deutschen Markt. Sie griffen auf nur eine Handvoll Zulieferer zurück, von denen schließlich weitere ausstiegen. Schon nach kurzer Zeit kam es zu einem Versorgungsproblem, denn so schnell ließ sich die Lücke nicht füllen. „Solche Fälle haben in den zurückliegenden Jahren zugenommen“, sagt Ulrich. Inzwischen produzieren nur noch drei Generikafirmen Tamoxifen-haltige Arzneimittel für Deutschland. Die Politik hat die Probleme erkannt: Die Regierung möchte laut Koalitionsvertrag die Herstellung von Arzneimitteln zurück nach Deutschland und in die Europä- ische Union holen. Gelingen soll das über weniger Bürokratie und mögliche Zuschüsse für Unternehmen. Viel passiert ist bisher nicht. Das Gesundheitsministerium hebt auf Nachfrage der Apotheken Umschau Vereinbarungen hervor, mit denen Deutschland im Zuge der Pandemie die Produktion von Covid-19-Medikamenten und -Impfstoffen fördern will.

Weitere Maßnahmen für eine sichere Versorgung mit Arzneimitteln würden „derzeit geprüft“, teilte eine Sprecherin mit. Gesundheitsökonom Ulrich sieht sogenannte intelligente Verträge als eine Lösung für das Dilemma der Lieferengpässe. Große Teile der Versorgung regeln Krankenkassen heute über Ausschreibungen. Darin erteilen sie einzelnen Herstellern das alleinige Recht, ihre Versicherten mit einem Arzneimittel zu versorgen. Im Gegenzug profitiert die Kasse von guten Konditionen. „Diese Rabattverträge kennen bislang nur ein Kriterium – und das ist der Preis“, sagt Ulrich. In Zukunft sollten auch Umwelt- und Arbeitsschutzaspekte bei der Auswahl der Vertragspartner eine Rolle spielen. „Das würde sicher dazu führen, dass europäische Standorte wieder attraktiver werden.“ Und: „Kassen sollten grundsätzlich immer mit mindestens zwei Herstellern Verträge abschließen.“ All das könne Lieferketten diversifizieren und widerstandsfähiger machen.

Ulrich sieht unter solchen Voraussetzungen keine Notwendigkeit, alle Stufen der Produktion zurück nach Deutschland zu holen. „Globalisierte Lieferketten sind aus ökonomischer Sicht grundsätzlich wichtig und richtig“, sagt er. Es komme darauf an, den Rahmen für die Versorgung möglichst robust zu gestalten. Auch auf euro­päischer Ebene arbeiten die Länder derweil an Lösungswegen. Die Richtung hatte die EU-­Kommission bereits 2020 vorgegeben: So suchen die Mitgliedsstaaten ­etwa nach Wegen, ein gemeinsames Meldesystem für Lieferengpässe in der Europäischen Union aufzubauen.

Ein Frühwarnsystem würde auch Apothekerinnen und Apothekern vieles erleichtern. Denn sie trifft der Wirkstoffmangel ebenfalls: Wenn es zu Engpässen kommt, liegt es an ihnen, nach Alternativen zu suchen. Das erklärt Susanne Koch, Apothekerin und Vorsitzende des Saarländischen Apothekervereins. „Manchmal gibt es einen vergleichbaren Wirkstoff, auf den man umstellen kann“, sagt sie. „Oder wir versuchen, das Arzneimittel aus dem Ausland zu importieren.“ Natürlich könnten Apotheken viele Medikamente auch selbst als Rezeptur anfertigen – „vorausgesetzt, der Rohstoff als solcher steht zur Verfügung“, so Koch. Wie hoch der Aufwand für Apotheken ist, zeigt eine Umfrage des Zusammenschlusses der Apotheker in der Europäischen Union (ZAEU) in 27 Ländern. So wenden Apothekenteams in Europa etwa 5,1 Stunden pro Woche auf, um Lieferengpässe bei Arzneimitteln zu verwalten. „Wir müssen ja nicht nur Alternativen suchen, sondern auch Rücksprache mit dem Arzt halten, gegebenenfalls das Rezept ändern und das Ganze mit Patientinnen und Patienten besprechen“, erklärt Koch.

Derzeit können die Apotheken dank einer Pandemie-bedingten Sonderregel flexibler reagieren und müssen nicht zwingend das für die Krankenkassen jeweils günstigste Arzneimittel abgeben, wenn es nicht sofort verfügbar ist. „Das erleichtert unsere Arbeit und führt natürlich auch zu einer schnelleren Versorgung der Patienten“, so Koch. Bislang allerdings sind diese Sondervorgaben befristet. Dabei werden Lieferengpässe zumindest mittelfristig weiterhin zum Alltag in der Arzneimittelversorgung gehören. Denn trotz aller Pläne für eine Rückverlagerung der Herstellung: Organisation und Aufbau von Produktionskapazitäten brauchen Zeit und Geld. Gesundheitsökonom Volker Ulrich sagt dazu: „Die Versorgung wird natürlich teurer, wenn wir verstärkt in Europa produzieren.“ Politik und Gesellschaft müssten darum bereit sein, Mehrkosten zu tragen.


Quellen:

  • Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. / IW Consult GmbH/ Healthcare Supply Chain Institute: Resilienz pharmazeutischer Lieferketten, Studie für den Verband forschender Arzneimittelhersteller e.V.. https://www.vfa.de/... (Abgerufen am 16.08.2022)
  • Progenerika : So funktioniert das System der Generika. https://www.progenerika.de/... (Abgerufen am 16.08.2022)
  • Deutscher Bundestag: Verunreinigungen von Arzneimitteln mit Valsartan , Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke . https://dserver.bundestag.de/... (Abgerufen am 16.08.2022)
  • SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, FDP : Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag 2021-2025. https://www.spd.de/... (Abgerufen am 16.08.2022)
  • Bundesministerium für Gesundheit: SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 08.05.2023)
  • Pharmaceutical Group of European Union: PGEU Medicine Shortages: Survey 2021 Results. https://www.pgeu.eu/... (Abgerufen am 16.08.2023)
  • Interview mit Gesundheitsökonom Volker Ulrich, Professor an der Universität Bayreuth, am 13.07.2022

  • Interview mit Apothekerin Susanne Koch, Vorsitzende des Saarländischen Apothekervereins, am 12.07.2022