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Hollands Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Wo einst Seeleute in Hafenspelunken herumlungerten, wachsen heute bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel. Europas größter Hafen ist die Neue Maas hinunter Richtung Meer gezogen. In den frei gewordenen Industriebauten und Becken toben sich Architekten und kreative Unternehmensgründerinnen aus.

Vorbild für viele dieser Projekte ist der Dakakker (Dachacker) in Sichtweite des Rotterdamer Rathauses. Hier arbeitete Wouter Bauman in einem Sechzigerjahre-Hochhaus für die Umweltabteilung der Stadtverwaltung. Der Umweltwissenschaftler und Landschaftsplaner überlegte, wie man das Flachdach über seinem Büro sinnvoll nutzen könnte. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen kam er vor zwölf Jahren auf die Idee, dort oben einen Garten anzulegen. 2012 eröffnete auf dem Hochhaus ein begehbarer, blühender Gemüse- und Blumengarten sowie ein Restaurant. „Main Rooftop Farmer“ nennt sich Wouter Bauman heute lachend, frei übersetzt etwa der „Chef-Dach-Landwirt“.

Mit seinem Team baut er Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, Kürbisse, Rettiche und vor allem essbare Blüten an, die in den umliegenden Lokalen reißenden Absatz finden. Imker haben auf dem Dachacker Bienenstöcke aufgestellt. Im Blütenmeer gedeihen die Völker bestens. Neben dieser praktischen Nutzung versteht sich der Dachacker vor allem als Lernangebot. „Wir wollen zeigen, wie man die vielen Flachdächer ökologisch sinnvoll nutzen kann“, erklärt Bauman. Seine ­Initiative bietet Führungen auf Niederländisch, Englisch und neuerdings auch auf Deutsch an. Zu den Tagen der offenen Dächer (02. Juni bis 05. Juni) werden wieder viele Gäste aus aller Welt das grüne Paradies über den Dächern von Rotterdam besuchen – und bewundern.

Keine andere europäische Stadt versammelt auf so kleiner Fläche so viele ausgefallene Beispiele moderner Architektur – vom Wiederaufbau nach 1945 bis heute. So verbindet seit 1996 die 800 Meter lange Stahlseilbrücke Erasmusbrug die Innenstadt mit dem futuristischen Wolkenkratzer-Viertel Kop van Zuid. 1948 eröffnete im kriegszerstörten Zentrum die erste Fußgängerzone Europas, 2020 in einer riesigen spiegelnden Schüssel das weltweit erste öffentlich zugängliche Kunstdepot.

Während es in Rotterdam – wie in allen Großstädten – am Boden immer enger wird, ist oben noch Platz. Auf Hochhäusern und Nachkriegsbauten nutzt kaum jemand die vielen Flachdächer. Mehr als 18 Quadratkilometer Freifläche, die die Stadt nach und nach den Menschen öffnet. In luftiger Höhe entstehen Dachgärten, Rooftop-Bars, Kreativräume für Freiluft-Kunstaus­stellungen und die Ideen junger Unternehmen: Ein Start-Up installiert bunte, geräuschlose Windräder und Solaranlagen, die grünen Strom liefern. Andere legen vertikale Gärten an, in denen Gemüse ohne Erde in Nährlösungen gedeiht, oder bauen kleine Wohnhäuser – sogenannte Tiny Houses – aufs Dach.

Vom 26. Mai bis 24. Juni kann man Rotterdams ersten 700 Meter langen Rooftop Walk erleben. Neue Fußgängerbrücken verbinden die Dächer von ikonischen Rotterdamer Bauten wie dem 1956 eröffneten Bijenkorf-(Bienenstock-)Kaufhaus, damals einer der ersten Einkaufstempel Europas. Der Dächer-Parcours führt weiter an die Fußgängerzone Lijnbaan. Dort installiert Künstler Leon Keer auf einem der Dächer ein begehbares 3-D-Werk. „Wir wollen die Dächer öffnen, miteinander verbinden und allen zugänglich machen“, sagt Mit-Organisatorin Nikki Kamps von den Rotterdamse Dakendagen (Rotterdamer Dächertage). Nicht zuletzt wegen dieser innovativen Kraft zählt der Reiseführer Lonely Planet Rotterdam zu den zehn sehenswertesten Orten der Welt.

Robert Fishman


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