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Es ist schon fast Mitternacht, als Amidous* Mutter die Sorge um ihr Baby nicht länger aushält. Mit ihrem vor Fieber glühenden Kind in den Armen steht sie von ihrer Matte am Boden auf. Sie steigt vorsichtig über die schlafenden Frauen, schafft es, trotz des Seegangs das Gleichgewicht nicht zu verlieren, öffnet mit einer Hand die schwere Tür zum Hauptdeck und erspäht in der Dunkelheit Dragos (um die Crew zu schützen, bittet SOS Humanity, nur Vornamen zu nennen, Anm. der Redaktion). Dem Mann im blauen Overall hält sie ihr Kind entgegen: Ob er den Arzt rufen könne? Dragos gehört zur Besatzung der „Humanity 1“, gleich endet seine Spätschicht. Er legt Amidou die Hand auf die Stirn, dann greift er zum Funkgerät.

Am anderen Ende des Schiffs sitzt Maria in der kleinen Bordklinik noch am Schreibtisch. Die Krankenschwester aus Italien hat heute Nacht Bereitschaftsdienst. Als sie hört, dass ein Baby krank ist, packt sie Handschuhe, Fieberthermometer und Medikamente ein und macht sich auf den Weg zum Heck, um Amidou zu untersuchen. Der fünf Monate alte Junge ist nicht der Erste – schon am Nachmittag war ein Mädchen mit Fieber in die Sprechstunde gekommen. Breitet sich ein Infekt aus? Das wäre auf See ein ernstes Problem.

Die „Humanity 1“ startete im spanischen Burriana. Etwa 60 Kilometer vor der libyschen Küste nahm sie die Geflüchteten zweier Boote auf. Zusätzich übernahm sie dort Menschen eines anderen Rettungsschiffs. In Bari gingen die Geretteten von Bord.

Die „Humanity 1“ startete im spanischen Burriana. Etwa 60 Kilometer vor der libyschen Küste nahm sie die Geflüchteten zweier Boote auf. Zusätzich übernahm sie dort Menschen eines anderen Rettungsschiffs. In Bari gingen die Geretteten von Bord.

Die „Humanity 1“, das 61 Meter lange Rettungsschiff der Berliner Organisation „SOS Humanity“, steuert im zentralen Mittelmeer gerade auf Süditalien zu. Amidou und seine Mutter gehören zu den 261 Menschen, denen die Crew in den vergangenen Tagen das Leben gerettet hat. Mit mehr als 100 anderen Geflüchteten saßen die beiden in einem viel zu kleinen Schlauchboot, das bereits Luft verloren hatte. Amidous Mutter stammt aus Kamerun und ist vor dem Bürgerkrieg im Westen des Landes geflohen, ihr Baby brachte sie in Libyen zur Welt.

„Einfach nur helfen“

Maria, die Krankenschwester, kümmert sich bei diesem Einsatz um die Gesundheit der Geflüchteten – zusammen mit Diego, einem Arzt aus Spanien, Esther, einer Hebamme aus Deutschland, und Bianca, einer Psychologin aus Italien. Drei Wochen zuvor sind die insgesamt 28 Freiwilligen im spanischen Burriana an Bord gegangen. „Mit Geflüchteten zu arbeiten, war immer mein Traum, es erfüllt mich“, sagt die 28-jährige Maria. „Von Beginn an fühlte sich dieses Schiff an, als wäre es der richtige Ort für mich.“

Mit Schnellbooten fahren die Freiwilligen zu den Geflüchteten.

Mit Schnellbooten fahren die Freiwilligen zu den Geflüchteten.

Diego, dem 30-jährigen Allgemeinmediziner, geht es ähnlich: „Mir ist egal, ob die Menschen vor Hunger, Krieg oder etwas anderem geflohen sind. Ich will ihnen einfach nur helfen.“ Nach einer Quarantäne- und Trainingswoche steuerte der Kapitän das Schiff an Mallorca, Sardinien, Malta und Lampedusa vorbei Richtung libysche Küste. Dort, am Strand der Hauptstadt Tripolis, haben Amidous Mutter und die anderen ihre Boote bestiegen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Schwimmwesten gab es nicht, Treibstoff und Trinkwasser hätten niemals bis Europa gereicht.

Auf alles vorbereitet

Ordentlich sortiert liegen Schmerz- und Durchfallmittel in Schubladen und Schränken. Die Möglichkeiten, Kranken zu helfen, sind auf einem Schiff begrenzt. Doch die Klinik der „Humanity 1“ ist gut ausgestattet: Es gibt Medikamente gegen Halsweh, Husten und Pilzinfektionen, Augentropfen, Anti­biotika, Impfstoffe. Und zahllose Tuben mit Salbe gegen Verätzungen. Die haben Gerettete oft, weil sie auf ihren Booten teils tagelang barfuß in einem ätzenden Gemisch aus Treibstoff und Salzwasser saßen. Auf einen Herzstillstand ist die Crew ebenso vorbereitet wie auf kleinere Operationen.

Das Klinikteam versorgt eine geflüchtete Frau (Mitte).

Das Klinikteam versorgt eine geflüchtete Frau (Mitte).

Der nächste Tag beginnt mit einem Notfall: Einer der Geretteten hat einen epilep­tischen Anfall. Als Diego und Maria ihn stabilisieren und er wieder zu sich kommt, erfahren die beiden: Er weiß von seiner Krankheit, es gab auf der Flucht nur keine Möglichkeit für ihn, das nötige Medikament zu erstehen. Diego gibt ihm die Tabletten, während Maria nach Amidou schaut. Das Baby hat noch erhöhte Temperatur, aber es geht ihm schon besser.

Von Sizilien nach Bari: Irrfahrt auf rauer See

Gute Nachrichten auch von der Brücke: Die italienischen Behörden haben dem Kapitän die Genehmigung erteilt, einen Hafen anzusteuern. Nach fünf Tagen ohne Antwort ist das eine Überraschung, sorgt aber für Verwirrung: Obwohl Sizilien in Sichtweite und ein Sturm vorhergesagt ist, soll die „Humanity 1“ die Geretteten nach Bari bringen, eine mehr als 600 Kilometer entfernte Hafenstadt an der Adriaküste.

Zwei weitere Tage und Nächte auf rauer See stehen allen damit bevor. Der Crew bleibt nichts anderes übrig, als den Anweisungen Folge zu leisten. Diego und Maria haben alle Hände voll zu tun: Für jede Gerettete und jeden Geretteten müssen sie einen Gesundheitsbericht schreiben.

Vor dem Eingang der Klinik hat sich eine Schlange gebildet. Ein junger Mann aus dem Tschad zeigt eine Pilz­infektion am Kopf und klagt über lichtempfindliche Augen. Gekidnappt auf offener Straße, sei er monatelang in einem libyschen Internierungslager festgehalten worden. Im Dunkeln zusammengepfercht mit Hunderten anderen, sei er krank geworden.

Es sind Geschichten wie diese, die die ­Arbeit in der kleinen Klinik nur schwer erträglich machen. „Wann immer wir nachfragen, berichten uns die Menschen von dem grässlichen Albtraum, den sie in Libyen durchgemacht haben“, so Diego. „Sie zeigen uns Narben, die offensichtlich Folterspuren sind, erzählen von sexuellem Missbrauch, Schlägen und Knochenbrüchen.“

Gefährliche Flucht durch den „gescheiterten Staat“

Die Fluchtroute über das Mittelmeer gilt als eine der gefährlichsten der Welt, weil so viele ertrinken. Doch was den Menschen aus West- und Zentralafrika auf dem Weg zur Küste widerfährt, ist nur schwer zu begreifen.

Libyen gilt als „gescheiterter Staat“. Seit dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi ist die öffentliche Ordnung zusammengebrochen, Milizen haben das Sagen. Mehr als 900.000 Menschen sind laut den Zahlen der Vereinten Nationen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp, Krankenhäuser werden regelmäßig geplündert.

Menschen auf der Flucht schweben in ­Lebensgefahr, wenn sie das Land durchqueren: Jederzeit könnten sie in eins der Internierungslager verschleppt werden. „Wir wurden gezwungen, uns gegenseitig zu verprügeln“, sagt der Mann aus dem Tschad, als Diego seine Augen untersucht. Auf seinem Kopf prangt eine schlecht verheilte Narbe, er sei mit einer Waffe geschlagen worden. Ob er nachts schlafen könne, fragt Diego. Nein, schon lange nicht mehr – in Libyen musste er jederzeit damit rechnen, geweckt und gefoltert zu werden.

Mehrere Stunden dauert die Bergung der Menschen. Als Erstes verteilen die Retterinnen und Retter Schwimmwesten.

Mehrere Stunden dauert die Bergung der Menschen. Als Erstes verteilen die Retterinnen und Retter Schwimmwesten.

Pullbacks der lybischen Küstenwache – beauftragt von der EU

Auf hoher See scheint dieses Grauen weit weg – und ist doch so nah: Bei jeder der vier Rettungen der vergangenen Tage tauchte die sogenannte libysche Küstenwache auf. ­Finanziert und beauftragt von der Euro­päischen Union, versuchen die bewaffneten Männer, Geflüchtete auf See abzufangen, um sie zurück nach Libyen zu bringen.

So ein Pullback ist illegal: Würden europäische Behörden das tun, verstießen sie gegen die Genfer Konvention. Einmal, es ist erst drei Tage her, kam die „Humanity 1“ zu spät. Die Crew war dabei, Schiffbrüchige von einem Schlauchboot zu retten, als der erste Offizier zwei Meilen entfernt ein weiteres Boot in Seenot entdeckte.

Doch die Libyer waren schneller: Vor den Augen der Retterinnen und Retter zwangen sie die Menschen auf ihr Schiff und forderten den Kapitän der „Humanity 1“ über Funk auf sich fernzuhalten. Sechs Geflüchtete sprangen vor Verzweiflung ins Wasser und konnten gerade noch gerettet werden. Schiffsarzt Diego ­behandelte die völlig unterkühlten Männer: „Sie sagten, sie wären lieber ertrunken, als nach Libyen zurückgebracht zu werden.“

Sprachbarrieren erschweren die Kommunikation

Wenn möglich, kommuniziert das Klinikteam mit Überlebenden auf Englisch. Ist nur Arabisch oder Französisch möglich, hilft Antoine, ein Rechtsanwalt aus Frankreich, der in Ägypten gelebt hat und als interkultureller Vermittler an Bord ist. Auch andere Crewmitglieder springen immer wieder ein, um zu übersetzen. Findet sich keine gemeinsame Sprache, gibt es Schautafeln und Bilder, damit die Menschen zeigen können, was ihnen wehtut.

Trotz Sprachbarrieren und Folterberichten: Nach schönen Momenten gefragt, müssen Maria und Diego nicht lange überlegen. „Eine Frau war völlig dehydriert“, erzählt der 30-jährige Arzt. „Nach mehreren Monaten in Libyen, wo sie sexuell missbraucht wurde, war sie unterernährt und sprach kein Wort. Blutdruck und Blutzucker waren niedrig, ihr Puls hoch. Es machte mich glücklich, sie nach mehreren Infusionen bei uns an Bord wieder essen und lachen zu sehen.“

Maria muss schmunzeln, als sie von einem Mädchen erzählt: „Sie kam mit ihrer Mama in die Klinik. Als wir die Mutter untersuchten, lief die Kleine fröhlich tanzend herum und schaute sich alles genau an. Am liebsten hätte sie alle Schubladen geöffnet.“ Ein Achtjähriger, der ganz allein auf der Flucht sei, finde die Bordklinik genauso spannend, berichtet die Krankenschwester: „Er besucht uns oft und hat sogar schon hier übernachtet. Offenbar ist der Raum für ihn seit Langem der erste sichere Ort zum Schlafen.“

In Sicherheit: Die Geflüchteten werden von Mitarbeitenden des Roten Kreuzes im italienischen Bari empfangen.

In Sicherheit: Die Geflüchteten werden von Mitarbeitenden des Roten Kreuzes im italienischen Bari empfangen.

Endlich an Land – schnelle Hilfe für die dringendsten Fälle

In der letzten Nacht auf See schläft auf der „Humanity 1“ kaum jemand. Das Schiff kämpft sich durch meterhohe Wellen, immer wieder schwappt kaltes Meerwasser übers Deck. Die aufgespannten Planen schützen wenig vor dem Wind. Vor allem die Männer frieren: Während es für Frauen und Kinder an Bord einen Schutzraum gibt, schlafen sie an Deck auf dem Boden. Die Crew verteilt Rettungsdecken – und viele Tabletten gegen Seekrankheit.

Als das Schiff am nächsten Morgen in den Hafen einläuft, scheint die Sonne. Aufgeregt drängen sich die 261 Überlebenden an Deck und verfolgen das Anlegemanöver. Die italienischen Behörden und Hilfsorganisationen, die sie in Empfang nehmen werden, fordern Diego und Maria auf, die medizinisch dringendsten Fälle zuerst auszuschiffen. „Zusammen suchten wir zehn Leute aus“, so Diego später. „Darunter ­einen Mann mit einer schweren Atemwegsinfektion und zwei schwangere Frauen. Ich fand die Auswahl schwierig, denn eigentlich waren alle psychisch extrem belastet.“

Amidou und seine Mutter müssen noch etwas warten, bis sie italienisches Festland betreten dürfen. Die Frau aus Kamerun hat Tränen in den Augen, als sie sich von der Crew verabschiedet. Ihrem Baby geht es sichtlich besser, das Fieber ist verschwunden. Fröhlich lachend streckt Amidou Maria die Händchen entgegen. „Er hatte wohl nur ein Virus, nichts Schlimmes“, sagt die Krankenschwester. Ob sie so einen Einsatz noch einmal mitmachen würde? „Ja, auf ­jeden Fall“, sagt die 28-Jährige. „Für viele der Menschen, die wir gerettet haben, schien es das erste Mal zu sein, dass sich jemand um sie gekümmert hat.“

50 Jahre Ärzte ohne Grenzen

Sie sind in kürzester Zeit in den Katastrophengebieten der Welt. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gibt es nun seit 50 Jahren. Und sie ist weiterhin nötig zum Artikel

Mehr zu SOS Humanity auf der Webseite der Organisation: sos-humanity.org


Quellen: