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Wenn die Tage kürzer und die Nächte kühler werden, hallen in dem engen Tal heisere, laute Schreie wider. Ein unüberhörbares Signal dafür, dass im Schweizerischen Nationalpark die Hirsche brünftig sind. Das macht gehörig Eindruck. Auch auf uns Menschen. Die hormongefluteten Geweihträger buhlen fast rund um die Uhr um die Weibchen. Gleich mehrmals am Tag paaren sie sich mit den Hirschkühen. Begleitet wird all das von inbrünstigem Röhren.

„Anderswo halten die Hirsche ihre Brunft meist im Wald ab, bei uns jedoch lassen sich die offenen Brunftplätze sehr gut einsehen“, sagt Annina Buchli. Die 58-Jährige ist im Oberengadin aufgewachsen und arbeitet als Exkursionsleiterin im Nationalpark, den viele als besten Ort bezeichnen, um das tierische Spektakel zu beobachten.

Insbesondere die Val Trupchun, wie es auf Bündnerdeutsch heißt. Das von Zwei- und Dreitausendern umringte, völlig unbebaute und nur zu Fuß erreichbare Hochtal reicht bis an die italienische Grenze und bietet gleich mehrere gute Plätze zum Beob­achten. „Das liegt auch am strengen Wegegebot“, weiß Annina Buchli. „Obwohl jeden Tag viele Besucherinnen und Besucher im Park unterwegs sind, trauen sich die Hirsche in offenes Gelände. Sie wissen, dass die Menschen auf den Wegen bleiben und ihnen nicht gefährlich werden.“ In sehr seltenen Fällen kommt ein brunfttoller Hirsch bis auf 20 Meter heran. Doch selbst bei einer normalen Sichtdistanz von rund 400 Metern ist ein intensives Erlebnis garantiert. Die Brunft beginnt in der Regel Mitte September und endet meist Mitte Oktober. „Die Dauer variiert. Woran das genau liegt“, sagt Buchli, „wissen wir nicht. Letztes Jahr jedenfalls war die Brunft extrem lang und intensiv.“

Buchli organisiert rund 350 Führungen im Nationalpark. Dazu zählen auch die rund siebenstündigen Hirschbrunftwanderungen in die Val Trupchun, die 2022 zwischen 9. September und 7. Oktober jeden Donnerstag und Freitag stattfinden (35 Franken pro Person, nur mit Anmeldung). Von Punt da Val da Scrigns, mit dem „Zügli“ öffentlich erreichbar, geht es dann in rund drei Stunden hinauf zur Alp Trupchun auf etwa 2000 Metern. Die Wanderung ist 14 Kilometer lang, mit einer gewissen Grundkondition gut machbar und findet bei jedem Wetter statt. Bevor der Rückweg ansteht, wird Brotzeit gemacht – und dabei ausgiebig das tierische Treiben am Hang gegenüber beobachtet. Aufnahmegerät, Teleobjektiv und Extraspeicherkarte leisten gute Dienste. Ein Fernglas sowieso. Wobei man das, wenn sich die Hirsche in der Nähe aufhalten, meist gar nicht braucht – ebenso wenig wie für den Blick auf die goldgelben Lärchen, die für Farbe im überwiegend grünen Nadelwald sorgen.

Guides kennen den Weg und die besten Plätze und können viel über das Rotwild erzählen. Finden würde man die Hirsche jedoch auch selbst. Schließlich ist ihr Röhren fast den ganzen Tag über zu hören. Allein in der Val Trupchun, Beiname „Hirscharena“, tummeln sich rund 500 der Tiere. Buchli rät aber: „Wer eigenständig unterwegs ist, informiert sich idealerweise vorab über die Website, die App oder im Nationalparkzentrum in Zernez.“ Hier erfahren Besucherinnen und Besucher auch, dass es abseits der Hirsche noch viel mehr zu sehen gibt: Murmeltiere, auch Steinadler und Gämsen. Immer öfter auch Steinböcke und Bartgeier.

In der Val Trupchun kommen jedoch nicht nur Tierfreundinnen und Tierfreunde zum Zug. Das idyllische Tal ist eine artenreiche Pflanzenwelt mit dichtem Nadelwald und hochalpinen Flechten und Moosen. Enzian und Türkenbund blühen hier. Aufgrund des Wegegebots bleibt aber meist nur der Blick aus der Ferne. Und in die Ferne.

Christian Haas


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