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Man nehme das Blut eines Maulwurfs, trockne es und gebe Pulver von dem Schnabel einer ­Ente und den Füßen einer Gans dazu. Das Ergebnis binde man in ein Tuch und lege es drei Tage neben einen frischen Maulwurfshügel. Schließlich vermischt man das Ganze mit Lebern verschiedener Tiere, bäckt es mit Semmelmehl zu Küchlein – fertig ist ein mittelalterliches Heilmittel gegen die Fallsucht, wie man damals die Epilepsie nannte.

Sie fragen sich jetzt, wie die Ärzte im Mittelalter Maulwürfe fingen? Diese Informa­tion bleibt die Autorin den Leserinnen und Lesern leider schuldig. Das Rezept stammt von Hildegard von Bingen, der wohl populärsten Frau des Mittelalters. Als erste Nonne predigte die Äbtissin öffentlich, schrieb berühmte Werke, komponierte, setzte den Bau eines eigenen Klosters durch. Mit vielen Mächtigen der Zeit stand sie in Briefkontakt, denen sie wie Kaiser Barbarossa schon mal die Leviten las. Seit vergangenem Jahr hat die Powerfrau des 12. Jahrhunderts sogar ihren eigenen Feiertag: den 17. September. Der Heiligen begegnet man heute aber nicht nur im römischen Kalender. Kochbücher, Edelstein-­Sets, Mondkalender, Instant-Suppen mit Kräutern – alles erhältlich unter dem Etikett „Hildegard“. Doch was lehrte die Klosterfrau wirklich?

„Bekannt war Hildegard in ihrer Zeit vor ­allem für ihre theologischen Schriften“, berichtet der Würzburger Medizinhistoriker Tobias Niedenthal. Neben drei Werken, in denen sie mit dem Segen des Papstes ihre Visionen veröffentlichte, gilt Hildegard als eine bedeutende Vertreterin der Klostermedizin, die Niedenthal in einer Forschungsgruppe untersucht. Hinter den Mauern der Abteien und Konvente lebte im Mittelalter zumindest ein Teil des medizinischen Wissens der Antike weiter – und vermengte sich mit volkskundlichem. Schwerpunkt war die Lehre von den Heilpflanzen, die in den Gärten der Klöster kultiviert wurden. Populäre Bücher entstanden: wie das sogenannte Lorscher Arzneibuch oder der Macer floridus, ein Lehrgedicht über die Heilkräuter und ihre Wirkungen. Oft bezogen sich die Autoren auf die Werke antiker Ärzte wie Dioskurides, Galen und Plinius. Anders Hildegard. „Auffällig ist zuallererst ihre Originalität“, sagt Niedenthal. Auf Autoritäten beruft sich die Klosterfrau selten. Woher sie ihr Wissen hatte, ist unklar. Sicher kannte sie wichtige zeitgenössische Kräuterbücher. Hat Hildegard zudem selbst Kranke versorgt? Möglich, zumal die Krankenpflege eine wichtige Aufgabe des Benediktinerordens war.

Sicher ist indes, dass ihre Empfehlungen nicht nur aus göttlicher Schau stammen. „Hildegard steht durchaus auf dem Boden der zeitgenössischen Medizintheorie“, sagt Niedenthal. Deren wichtigster Pfeiler: die Humoralpathologie, die ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte als Ursache von Krankheiten sah. Als Hintergrund spürbar ist zudem die Lehre von den Signaturen. Danach lässt sich an Merkmalen von Pflanzen oder auch Tieren deren Wirkung ablesen. Alte Pflanzennamen wie Augentrost und Leberblümchen verweisen noch darauf – und auch der Maulwurf fand so seinen Weg in das eingangs zitierte Rezept gegen Epilepsie. Wie die Krankheit zeigt sich das Tier, wie die Klosterfrau schreibt, nämlich nur manchmal – um sich gleich wieder zu verstecken.

Und wie viel Hildegard steckt nun in den „uralten Rezepten“, über die man heute in Kochbüchern oder im Internet stolpert? „Das meiste hat mit dem Original wenig zu tun“, sagt Dr. Larissa Leibrock-Plehn. Die Apothekerin aus Brackenheim hat in Marburg Pharmaziegeschichte studiert und hält Vorträge über die Heilkunde von einst – auch über die der berühmten Klosterfrau. Dabei entlarvt sie auch gängige Mythen, ­etwa Hildegards Dinkelleidenschaft. Tatsächlich lobt diese das Getreide, nennt es „warm, fetthaltig, reichhaltig und wohlschmeckender als andere“. Doch es gibt nur ein einziges altes Rezept, in dem Dinkel enthalten ist – eine appetitanregende Suppe für Schwerkranke. Dinkelkekse à la ­Hildegard? Reine Erfindung. Überhaupt sucht man in Hildegards Werken vergebens nach Koch- und Backrezepten. Überliefert sind nur Rezepturen für Arzneimittel. Zutaten sind keineswegs nur Heilkräuter. Vor der wahren Hildegard-Medizin mussten sich nicht nur Maulwürfe in Acht nehmen. Auch Pfauen, Geier, Störche und selbst das legendäre Einhorn wurden zum Wirkstoff. „Der Übergang zu Magie und Aberglauben ist in dieser Zeit oft fließend“, sagt Leibrock-Plehn. Etwa wenn Hildegard den Rat gibt, gegen Dummheit an einem Saphir zu lecken – was jeder gern für sich ausprobieren kann.

Etikettenschwindel sind auch die Fastenkuren, die unter Hildegards Namen angeboten werden. „Beim Fasten sollst du es nicht übertreiben“, lautet der einzige überlieferte Rat. „Als Benediktinerin war für Hildegard Fasten natürlich selbstverständlich“, so Leibrock-Plehn. Allerdings mehr für das seelische als das körperliche Wohl – was für sie aber untrennbar war. In diesem Sinn ist ­ihre Heilkunde durchaus ganzheitlich.

Was man heute als Hildegard-Medizin kennt, ist weniger ein Produkt des Mittel­alters. Urheber war ein Arzt namens Gottfried Hertzka (1913–1997). Von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Landsberg interniert, gelobte er, den Menschen die Hildegard-Medizin zu bringen, falls er die Tortur überstehen würde.

Er überlebte – und erfüllte sein Versprechen. Dabei erwies sich die Heilige als überraschend werbewirksam. Zusammen mit dem Konstanzer Apotheker Max Breindl entwickelte Hertzka Rezepte, wobei er sich bei der Interpretation der Quellen große Freiheiten nahm. So schreibt Hildegard von krankheitserregenden „inneren Läusen“. Hertzka sah darin virusartige Kleinstlebewesen, die Tumorerkrankungen verursachen. „Da in dem Rezept Geierschnabel enthalten ist, erwirkte er für sein angebliches Krebsmittel sogar eine Abschusserlaubnis“, erzählt Medizinhistoriker Niedenthal.

Viel interessanter als Hertzkas Hildegard ist für den Historiker das Original. Hier landete die Nonne durchaus echte Volltreffer. So erwähnte sie als eine der Ersten noch heute geschätzte Heilkräuter wie Lavendel, Ringelblume und wohl die Arnika. Zu Hildegards Lieblingskräutern gehörte überdies der Fenchel. Er soll die Verdauung anregen, bei Katarrhen der Atemwege hilfreich sein und Augenentzündungen lindern. „Aus pharmazeutischer Sicht noch immer plausibel“, bestätigt Leibrock-Plehn.

Ebenfalls bemerkenswert: Hildegards Vorliebe für fernöstliche Gewürze wie Muskatnuss, Nelken, Zimt und Ingwergewächse, darunter Zitwer und Galgant. „Einige davon wirken antibakteriell und antiviral“, sagt die Apothekerin. Wo Hildegard ebenfalls richtig lag: „Sie verurteilte die Völlerei“, so Leibrock-Plehn. In maßlosem Essen, vor allem von fettem Fleisch, sah sie die Ursache vieler Erkrankungen. Doch sollte man Hildegards Empfehlungen stets mit Vorsicht genießen. Sie empfahl auch Giftpflanzen wie Maiglöckchen und Aronstab.

Dass in ihren Werken noch ungehobene Schätze schlummern, hält Niedenthal durchaus für möglich. „Mit Hildegard werden wir keinen Krebs heilen“, sagt er. Doch überraschte schon manche Klostermedizin als wirksames Antibiotikum. Dass Hildegard auch sonst gut über den Körper Bescheid wusste, zeigt sich übrigens noch in ganz anderer Weise: Von ihr stammt die erste westliche Beschreibung des weiblichen Orgasmus. „Wird heute ein bisschen überstrapaziert. Stimmt aber“, so Niedenthal. Woher die Klosterfrau dieses Wissen hatte? Die Antwort muss der Historiker schuldig bleiben.


Quellen:

  • Höfling G: Warum Hildegard von Bingen mit Dinkelkeksen nichts zu tun hat, Kirchenlehrerin interessierte sich auch für Naturkunde. online: https://www.katholisch.de/... (Abgerufen am 25.07.2022)
  • Spendier M: Kräuterkunde nach Hildegard: Heilsam bis giftig, Ein Hildegard-Experte erklärt, was hilft und was nicht. online: https://www.katholisch.de/... (Abgerufen am 25.07.2022)
  • Werke Band II

  • Werke Band V