Logo der Apotheken Umschau

„Heinrich, der Wagen bricht!“, ruft der Prinz ängstlich. Gerade erst von seinem Dasein als glitschiger Lurch erlöst, wittert er schon die nächste Gefahr. In der Kutsche, die ihn in sein Königreich zurückbringen soll, erschreckt ihn ein lautes Krachen. Heinrich, sein getreuer Diener, beruhigt ihn: Die Töne, gesteht er, stammen von seinem Herzen. Er hatte es mit eisernen Spangen umgürten lassen, damit es ihm nicht vor „Weh und Traurigkeit zerspränge“. So groß war die Trauer, dass sein Herr ein Leben als Frosch fristen musste. Doch jetzt, von Freude erfüllt, befreit es sich aus seinem Gefängnis.

So erzählten es die Brüder Grimm vor mehr als 200 Jahren im Märchen vom Froschkönig. Wenn heute von den Leistungen des Herzens die Rede ist, dann oft in Zahlen mit vielen Nullen: Etwa 100 000 Mal zieht sich sein starker Muskel jeden Tag zusammen. Bis zum Alter von 80 Jahren schlägt es mehr als drei Milliarden Mal und pumpt dabei etwa 200 000 Kubikmeter Blut durch unseren Körper – genug, um 80 olympische Schwimmbecken zu füllen. Doch ist das alles? Ist das Herz nicht mehr als eine Hochleistungspumpe aus Fleisch und Blut?

Nicht nur Märchen, auch unsere Sprache bewahrt die uralte Überzeugung einer viel tieferen Bedeutung. Ob das Herz schwer wird, einem ein Stein vom Herzen fällt, man es öffnet oder daraus eine Mördergrube macht – Gefühl, Empfindung, ja unser tieferes Selbst scheinen unmittelbar mit dem Organ in der Brust verbunden zu sein.

„Die Vorstellung des Herzens als schlichte mechanische Pumpe ist etwas vergleichsweise Neues“, erzählt Professor Volker Köllner, der als Facharzt für psychosoma- tische Medizin das Rehazentrum Seehof in der Nähe von Berlin leitet. Ein Schwerpunkt: Psychokardiologie. In der relativ neuen Disziplin spielt die Verbindung von Herz und Psyche eine zentrale Rolle. Sie wurde in der Medizin lange vernachlässigt.

Früher war sie dagegen selbstverständlich. Bereits in einem der ältesten erhaltenen Medizintexte, dem altägyptischen Papyrus Ebers aus dem 16. Jahrhundert vor Christus, wirken Gefühle unmittelbar auf die Herzgesundheit. „Wenn sein Herz trübselig ist und Trübnis geschmeckt hat, so ist sein Herz eingeengt“, heißt es dort. Zorn, so weiter, fresse es sogar auf. „Die Vorstellung einer engen Verbindung zwischen Herz und Seele drängte sich förmlich auf“, sagt Köllner. Schließlich spürt jeder die wechselseitige Wirkung am eignen Leib. So schlägt das Herz vor Angst bis zum Hals, scheint bei Freude zu hüpfen.

Heute kennt man die biologische Grundlage dieser Verbindung. Über Hormone, aber auch direkt über die Herz-Hirn-Achse, die das Herz durch die Nerven des Sympathikus und Parasympathikus direkt mit dem Gehirn verbindet, laufen Befehle vom Kopf direkt in unsere Brust. Das Herz reagiert – und zwar so blitzschnell, dass es für die Menschen einst schwer zu erkennen war, was Ursache ist und was Wirkung. „Man glaubte, dass die Angst regelrecht im Herzen sitzt“, beschreibt Köllner.

Die physiologische Funktion des Herzens blieb indessen lange verborgen. Im Jahr 1628 erkannte der englische Arzt William Harvey erstmals, dass das Blut im Körper zirkuliert, angetrieben von einer Pumpe: dem Herzen. Bis dahin galt die Lehrmeinung des antiken Arztes Galen. Im Herzen, so schrieb er, brenne eine Art Feuer, das dem Körper Leben spende.

Mit dem immer stärker wissenschaftlichen Blick auf den Körper verlor das Herz Schritt für Schritt die Magie, die es seit jeher umgab. Der Körper wurde zur Maschine, das Herz zu ihrem Motor. Der konnte verschleißen, ins Stocken geraten, ließ sich aber auch reparieren. In der Therapie von Herzkrankheiten brachte diese Sichtweise durchaus enorme Fortschritte. Unterstützt von der Herz-Lungen-Maschine operieren Ärztinnen und Ärzte heute am ruhenden Herzen. Mithilfe von Kathetern, biegsamen Kunststoffschläuchen, gelangen sie in das Organ, ohne den Brustkorb zu öffnen, und machen verschlossene Gefäße mit Gefäßstützen, sogenannten Stents, wieder durchlässig. Die Erfolge zeigen sich auch in Zahlen: „Noch vor 20 Jahren war das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, doppelt so hoch wie heute“, sagt Köllner.

Dennoch gab es immer wieder Fälle, die Rätsel aufgaben. Patientinnen und Patienten in den besten Jahren, schlank, Nichtraucher, ohne Herzkrankheiten in der Familie oder sonstige Risiken – sie erlitten trotzdem einen Herzinfarkt. „Man hatte dafür schlicht keine Erklärung“, sagt Köllner. Bis bahnbrechende neue Arbeiten einen ganz anderen Risikofaktor ins Spiel brachten. Lange Zeit kannte man nur einen psychischen Faktor, der dem Herzen zu schaffen machen sollte: Stress. Mitte der 1990er-Jahre untersuchte die kanadische Psychologin Nancy Frasure-Smith Menschen nach einem Herzinfarkt, die zudem an einer Depression litten. Das Ergebnis überraschte: „Ihr Risiko, an ihrer Herzkrankheit zu sterben, war im folgenden Jahr fast sechsmal höher als bei Menschen ohne Depression“, sagt Köllner. Spätere Studien zeigten, dass eine Depression auch ein Risikofaktor ist, eine Herzerkrankung zu entwickeln – fast so stark wie Rauchen. Es folgten Studien zum Einfluss von traumatischen Erfahrungen, vor allem in der Kindheit. Auch hier zeigten sich enge Zusammenhänge.

Die neuen Erkenntnisse verbreiteten sich in der Fachwelt und begannen bald, die Therapie zu verändern. Einer der Pioniere der Psychokardiologie in Deutschland ist Professor Christoph Herrmann-Lingen. Schon als junger Arzt interessierte er sich für die Zusammenhänge von Herz und Psyche. „Für meinen Chef war ich damals ein bunter Vogel“, erzählt er. Trotzdem unterstützte dieser den neuen Ansatz, der das Organ in der Brust in größerem Zusammenhang betrachtete. Die Wende kam vor etwa 20 Jahren. 2003 trat Herrmann-Lingen in Göttingen eine Schwerpunktprofessur für Psychokardiologie an – die erste in Deutschland. Sechs Jahre später eröffnete er dort die erste psychokardiologische Station an einer Uniklinik. Hier arbeiten Fachleute aus der Kardiologie, Psychosomatik und Psychotherapie gleichberechtigt zusammen.

Seither hat sich viel getan. Inzwischen findet man nicht nur an vielen Krankenhäusern und Reha-Kliniken Angebote, in denen die Verbindung von Herz und Psyche eine zentrale Rolle spielt. Ärztliche Leitlinien, die zu verschiedenen Herzkrankheiten die optimale Behandlung vorgeben, fordern explizit, die psychische und soziale Situation einzubeziehen. Ob das auch bei jeder Patientin und jedem Patienten geschieht? Überprüft wird das bislang leider nicht. „Die Versorgung hat sich aber deutlich verbessert“, sagt Christoph Herrmann-Lingen. Auf seine Initiative wurden bereits mehrere Hundert Kardiologinnen und Kardiologen in psychokardiologischer Grundversorgung geschult, zudem Fachpersonal aus Psychosomatik und Psychotherapie. Die neue Herzmedizin ist wieder ganzheitlich. Wie zu jener Zeit, als in dem Organ in unserer Brust nach alter Vorstellung noch ein Lebensfeuer brannte.


Quellen:

  • Rahman A, Liu D: Broken heart syndrom, A case study. Reprint Australian family physician : https://www.racgp.org.au/... (Abgerufen am 25.07.2022)
  • Lesperance F, Frasure-Smith N, Talajic M: Major Depression Before and After Myocardial Infarction, Its Nature and Consequences. Psychosomatic Medicine: https://journals.lww.com/... (Abgerufen am 25.07.2022)
  • Taschenbuch

  • Frasure-Smith N, Lespérance F, Talajic M : Depression and 18-month prognosis after myocardial infarction, Comparative Study. Circulation: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 27.07.2022)
  • Deutsche Herzstiftung: Deutscher Herzbericht 2020. Online: https://www.herzstiftung.de/... (Abgerufen am 27.07.2022)
  • Cohen BE, Edmondson D, Kronish IM: State of the Art Review: Depression, Stress, Anxiety, and Cardiovascular Disease. In: American Journal of Hypertension 01.01.2015, 28-11: 1295-1302
  • Edmondson D, Richardson S, Falzon L et al.: Correction: Posttraumatic Stress Disorder Prevalence and Risk of Recurrence in Acute Coronary Syndrome Patients: A Meta-analytic Review. In: PLoS One 06.03.2019, 14-3: 1-10
  • Rosendahl J, Tigges-Limmer K, Gummert J et al.: Bypass surgery with psychological and spiritual support (the BY.PASS Study): results of a pragmatic trial based on patients' preference. In: Psychotherapy and Psychosomatics 01.01.2013, 82-1: 35-44
  • Salzmann S, Euteneuer F, Laferton JAC et al.: Effects of Preoperative Psychological Interventions on Catecholamine and Cortisol Levels After Surgery in Coronary Artery Bypass Graft Patients: The Randomized Controlled PSY-HEART Trial. In: Psychosomatic Medicine 01.09.2017, 79-7: 806-814
  • Auer CJ, Laferton JAC, Shedden-Mora MC et al.: Optimizing preoperative expectations leads to a shorter length of hospital stay in CABG patients: Further results of the randomized controlled PSY-HEART trial. In: Journal of Psychosomatic Research 01.06.2017, 97: 82-89
  • Rief W, Shedden-Mora MC, Laferton JA et al.: Preoperative optimization of patient expectations improves long-term outcome in heart surgery patients: results of the randomized controlled PSY-HEART trial. In: BMC Medicine: 10.01.2017, https://doi.org/...
  • Holler M, Koranyi S, Strauss B et al.: Efficacy of Hypnosis in Adults Undergoing Surgical Procedures: A meta-analytic update. In: Clinical Psychology Review: 01.04.2021, https://doi.org/...
  • Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK – Langfassung, 5. Auflage. Version 1. Leitlinie: 2019. https://doi.org/... (Abgerufen am 03.08.2022)