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Die Angehörigen werden vergessen und übersehen“, klagt Jens Flassbeck und spricht aus Erfahrung. Denn der Psychologe und Psychotherapeut arbeitet seit Jahrzehnten im blinden Fleck der Suchthilfe: mit Angehörigen von Suchtkranken. Deren Leben wird massiv von der Suchterkrankung überschattet. Und sie haben ihre ganz eigenen, co-abhängigen Leiden und Probleme – manchmal sogar mehr und stärker als die süchtige Person selbst. „Aber die Größenordnung und Brisanz der Angehörigenproblematik einerseits und der Mangel an Beachtung, Forschung und Hilfeangeboten andererseits stehen in einem krassen Widerspruch“, sagt Flassbeck.

Für Abhängige gibt es zum Beispiel Streetwork, Suchtberatungs- und Behandlungsstellen, Entgiftung oder qualifizierten Entzug, ambulante oder stationäre medizinische Rehabilitation, soziale Rehabilitation oder Selbsthilfe. Das Angebot ist äußerst vielfältig. In konkreten Zahlen der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), die im vergangenen November veröffentlicht wurden, bedeutet das: 2020 gab es bundesweit 315 600 ambulante Betreuungen und 33 900 stationäre Behandlungen in 854 ambulanten und 135 stationären Einrichtungen. Oder, wie es die DSHS in ihrem Jahresbericht selbst schildert: „Die Suchthilfe in Deutschland zählt damit zu den größten Versorgungssystemen im Suchtbereich in Europa und weist eine hohe Qualifizierung und Differenzierung auf.“ Aber der Begriff „co-abhängig“ taucht in dem 204-Seiten-Dokument nicht auf. Nur der Fakt, dass „Angehörige und andere Bezugspersonen“ acht Prozent von den 315 600 Betreuungen ausmachen, wird erwähnt. Bundesweit. Das macht Flassbecks Punkt deutlich: „Alle Hilfen sind für die Suchtkranken reserviert.“

Dabei kann das Erleben einer Suchterkrankung in zweiter Reihe durchaus gravie­rende und komplexe Folgen haben, die sich laut Flassbeck als Depressionen, Angststörungen oder psychosomatische Leiden manifestieren. Dass sich die Sucht einer Person auf andere Menschen auswirkt, liegt für Flassbeck dabei auf der Hand. „Abhängigkeit ist ein soziales System“, sagt er. „Suchtbetroffene verhalten sich meist selbst­süchtig und verantwortungslos. Co-abhängige Angehörige sind meist selbstlos und übermäßig verantwortungsbewusst.“ Sie sind sozusagen der Gegenpol. So versuchen Angehörige zum Beispiel, der oder dem Betroffenen unbedingt zu helfen. Sie übernehmen die Verantwortung für alles, was die oder der Suchtkranke selbst nicht mehr leisten kann. „Die Angehörigen kreisen um die Suchtkranken und erschöpfen sich in der Aufgabe, sie zu retten. Als Folge verlieren sie sich selbst, spüren sich nicht mehr und vernachlässigen eigene Bedürfnisse, Ziele und Interessen“, schildert Flassbeck. Sie sind also Mitgefangene der Sucht. Wie viele Menschen in Deutschland von Co-Abhängigkeit betroffen sind, lässt sich kaum sagen. Denn die Angehörigen werden in sämtlichen Suchtstatistiken kaum erwähnt. In der Forschung sieht das ganz ähnlich aus: „(…) die wissenschaftliche Datenlage ist eher dürftig. Es gibt nur wenige Studien und Daten dazu, welche sich zudem nur mit Detailfragen, wie Beziehungsmustern oder der Partnerzentrierung von Angehörigen, beschäftigen. Das ist durchaus sinnvoll, jedoch kommt dadurch die Ernsthaftigkeit und Schwere einer Co-Abhängigkeit nicht ausreichend zum Ausdruck“, heißt es in einer 2021 veröffentlichten Bachelorarbeit von Linda Theurich von der Hochschule Zittau/Görlitz. Schon die Tatsache, dass man auf der ­Suche nach aktuellen wissenschaftlichen Texten höchstens eine Abschlussarbeit aus dem Studiengang Soziale Arbeit findet, ist ein Beleg für den Mangel an Forschung. Zahlen zur Häufigkeit von Co-Abhängigkeit gibt es nicht. Der Bundesverband der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe hat jedoch eine Schätzung gewagt. Beziehungsweise eine einfache Rechnung aufgestellt: die Anzahl der Suchtkranken mal drei (Angehörige pro Person). Er kommt so auf neun bis zehn Millionen Menschen in Deutschland, die von Co-Abhängigkeit betroffen sind.

Eine von ihnen ist Elke Simons aus Nordrhein-Westfalen. Ihr Name ist auf Wunsch frei erfunden. Simons’ Geschichte zeigt, wie die Sucht eines Einzelnen um sich greift, was sie in Beschlag nimmt und kaputtmacht. „Mein Leben ist mir wie Sand durch die Finger geronnen“, sagt die 68-Jährige heute. Realisiert hat sie das jedoch erst, als ihr damals neunjähriger Sohn sie ohnmächtig ihm Bad vorfand. Nervenzusammenbruch. Aber der Reihe nach.

Wenn man Simons nach ihrer Geschichte fragt, holt sie zunächst sehr weit aus. „Ich bin jetzt im Rentenalter. Ich bin ein wohlbehütetes Kind aus der Nachkriegszeit, habe nur gute Zeiten miterlebt und Eltern gehabt, die ihre Jugend im Krieg verbracht haben“, erzählt Simons. Nach dem „Gemetzel“, wie Simons es nennt, studierten ihre Eltern, waren froh über die neue Freiheit und gründeten schließlich eine Familie. Friede. Wirtschaftswunder. Wohlstand. „Das änderte jedoch nichts daran, dass meine Eltern höchst traumatisiert waren. Auch die Lehrer. Eigentlich alle Erwachsenen“, sagt Simons. Deshalb war es kein seltenes Ereignis, dass Simons als Kind an Samstagen mit schönem Wetter, auf Geburtstagsfeiern oder auf Hochzeiten Erwachsene sah, die zum Ende der Abende reglos dasaßen und weinten. Betrunken. „Von denen waren die wenigsten Alkoholiker. Aber ich habe schon als Kind die Sprache von Alkohol gelernt, dass er die Seele betäubt“, schildert Simons. „Und dass er tief in unserer Gesellschaft steckt.“

Das zeigt sich auch in den Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), die das „Jahrbuch Sucht“ herausgibt: Insgesamt gibt es 1,6 Millionen Erwachsene in Deutschland, die von Alkohol abhängig sind. Gleich darauf folgen in den Statistiken der Missbrauch und die Abhängigkeit von Medikamenten. Hier wird die Zahl auf 1,5 Millionen süchtige Menschen geschätzt. Rund 600 000 Personen weisen laut dem Bundesgesundheitsministerium einen problematischen Konsum von illegalen Drogen wie beispielsweise Heroin oder Cannabis auf. Bei der Glücksspielsucht sind es gut 500 000 Menschen, die ein problematisches oder krankhaftes Verhalten zeigen.

Elke Simons hatte mit der Alkoholsucht ­ihres Mannes zu kämpfen. Mit ihm hatte sie ein Leben aufgebaut: drei Kinder, eine eigene Firma, ein Haus. 80er-Jahre-Wohlstand. „Mit der Zeit hat mein Mann immer mehr getrunken – so sehr, dass er sich um nichts mehr kümmern konnte. Weder um die Firma noch um die Kinder“, schildert Simons. „Also habe ich versucht, alles zu wuppen.“ Mann. Sucht. Kinder. Firma. Haushalt. Das machte auf die Dauer weder ihre Seele noch ihr Körper mit. Simons realisierte es aber erst, als sie vor Erschöpfung umkippte und ihr Sohn sie wachrüttelte. „Erst da habe ich verstanden, dass es so nicht mehr geht“, sagt sie. Kurz darauf nahm sie ihre Kinder, zog um, machte eine neue Ausbildung und ließ sich scheiden. Es war ein kompletter Neustart. Was ihr während dieser Zeit Halt gegeben hat, war eine Selbsthilfegruppe – die Al-Anon-Familiengruppe.

Der Name leitet sich aus dem Englischen von „Alcoholics Anonymous Family Groups“ ab, besser bekannt unter dem Namen Anonyme Alkoholiker (AA). Al-Anon ist sozusagen das Gegenstück für Angehö­rige. Das Prinzip ist jedoch dasselbe: Es ­basiert auf Anonymität und einem Zwölf-Schritte-Programm, das seine Ursprünge in den 50erJahren hat. 2020 hat das Coch­rane-Institut, das die Qualität von Studien beurteilt, nach einer Analyse von 27 Studien dem AA-Programm eine hohe Wirksamkeit zugeschrieben – wenn es darum geht, abstinent zu bleiben. Doch eben jenes Programm, bei dem es viel um Gott geht, wird durchaus auch kritisch gesehen. „Das Zwölf-Schritte-­Programm ist aus der Zeit gefallen. Es ist Kind einer autoritären Zeit und religiös. Es bietet abhängigen Menschen eine abhän­gige Lösung an“, sagt Psychologe Jens Flassbeck. Auf der anderen Seite würdigt er diese Gruppen auch. „Bis heute sind sie die einzige Selbsthilfebewegung, die ein eigenes Angehörigenkonzept hat“, sagt Flassbeck. Elke Simons ist von dem Konzept überzeugt. Und nimmt auch heute noch regelmäßig an den Al-Anon-Treffen teil. Ihr Ex-Mann starb 2006.

Es gibt auch Fälle wie den von Kathrin und Stefan Schmidt, deren Namen ebenfalls auf Wunsch frei erfunden sind. Ihre Tochter wurde als Teenager von Heroin abhängig. Das war vor knapp 20 Jahren. Seitdem sind sie Mitgefangene einer besonders perfiden Sucht. „Anfangs hat man noch Hoffnung. Aber die gibt es nicht. Man macht sich immer Sorgen und kommt niemals zur Ruhe. Nie. Höchstens, wenn sie im Gefängnis war, weil wir dann wussten, dass sie dort nichts anstellen kann“, sagt Stefan Schmidt. Er ist sich durchaus bewusst, dass diese Aussage herzlos klingen mag. Dabei steckt jahre­lange Arbeit dahinter, dass er als Vater so klar über die Sucht seiner Tochter sprechen kann. Abgrenzung.

„Das ist das Wichtigste, was man als Eltern lernen muss. Denn das ist ja genau der Punkt bei der Co-Abhängigkeit. Man denkt, man muss dem Kind helfen und alles geben, was man kann“, sagt Kathrin Schmidt. Schule. Ausbildung. Therapien. Arztter­mine. Vermittlung. Polizei. Gerichtstermine. Organisation. Geld. „Es ist ja das eigene Kind und in die Falle tappt man als Eltern automatisch“, sagt Kathrin Schmidt. Sie und ihr Mann haben versucht, ganze Welten für ihre Tochter zu bewegen. Vergeblich. Und der Kampf gegen die Sucht hat bei den Eltern Wunden hinterlassen – die nur langsam verheilen. „Wir haben uns ja obendrauf noch jahrelang Selbstvorwürfe gemacht und nie so recht verstanden, warum das gerade unsere Tochter macht. Das war alles sehr schmerzhaft“, sagt Stefan Schmidt. Neben psychologischer Hilfe und Gesprächen in der Suchtberatung hat ihnen ein offener Umgang mit der Sucht ihrer Tochter geholfen. Sie haben Freunde, Bekannte und sogar ihre jeweiligen Arbeitgeber informiert. „Damit haben wir uns selbst den Druck rausgenommen, etwas verheimlichen zu müssen“, sagt Stefan Schmidt. Und sie sind letztlich zu einer wichtigen Erkenntnis gekommen:

„Man muss lernen, dass Süchtige sich selbst helfen müssen. Das habe ich erst hier gelernt.“ Mit „hier“ meint Stefan Schmidt die Drogenhilfe Schwaben. Weil Beratungsangebote für Co-Abhängige so rar sind, wurde dort vor einiger Zeit eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Suchtkranken ins Leben gerufen.