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Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) sterben Nervenzellen ab, die die Muskeln steuern. Das verursacht Lähmungen, die nach und nach den ganzen Körper erfassen. Zwei Studien nähren nun erstmals die Hoffnung, dass Medikamente den verhängnisvollen Verlauf abmildern könnten ­– zumindest bei einigen Betroffenen.

Die eine Studie startete mit einer Frau, die an der aggressivsten Form der Krankheit litt. Verantwortlich dafür ist ein bestimmtes fehlerhaftes Gen (FUS). Mithilfe eines sogenannten Antisense-Medikaments (siehe
Infografik) gelang es, daraus resultierende krankhafte Prozesse abzumildern. Zwar starb die Frau an der fortschreitenden ALS. Fachleute halten die Ergebnisse trotzdem für ermutigend. Weitere Tests an 77 Freiwilligen sollen zeigen, ob die Therapie den Krankheitsverlauf günstig beeinflusst.

Die zweite Studie testet ein Antisense-Medikament, das sich gegen das fehlerhafte Gen SOD1 richtet. Es bremst die Verschlechterung der Lungenfunktion, so das vorläufige Ergebnis. Patientinnen und Patienten in Deutschland erhalten es derzeit im Rahmen eines Härtefallprogramms in spezialisierten Einrichtungen.

Wie funktioniert die Therapie?

Verändert sich das Erbgut, kann das Krankheiten verursachen. Mehrere Therapie- ansätze zielen darauf ab, fehlerhafte Gene verstummen zu lassen. Antisense-Medikamente greifen nicht ins Erbgut selbst ein, sondern nehmen seine Abschriften ins Visier: die sogenannte messenger-RNA oder kurz mRNA. Jede Zelle fertigt ständig solche Abschriften an. Nach ihren Bauplänen produziert die Zelle sämtliche Eiweiße, die sie benötigt, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

Forscherinnen und Forscher produzieren im Labor Antisense-Moleküle, die sich zielgenau an die mRNA des fehlerhaften Genes heften. Beide Substanzen greifen dabei ineinander wie die zwei Hälften eines Reißverschlusses. Als Folge dieser Verbindung kann aus der Erbgut-Abschrift kein Eiweiß entstehen, das der Zelle schaden würde.

Erste Antisense-Medikamente gibt es bereits. So wurde im Jahr 2017 ein Produkt zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie zugelassen. Bei dieser Erbkrankheit gehen ebenfalls Nervenzellen zugrunde, die Bewegungen steuern – oft bereits im frühen Kindesalter. Eine Ärztin oder ein Arzt spritzt das Präparat den Behandelten wiederholt ins Nervenwasser. Die einmalige Gabe reicht nicht aus, denn der Körper baut die injizierten Substanzen ab.

Nach diesem Vorbild könnten auch Therapien der genetisch bedingten Formen der Amyotrophen Lateralsklerose funktionieren – so die Hoffnung. Bislang sind über 25 Gene bekannt, die diese Art von Muskellähmung verursachen können. Für einige werden bereits Therapien mit maßgeschneiderten Antisense-Wirkstoffen entwickelt.

Was haben die Behandelten davon?

Wie verträglich und wirksam die beiden genannten Antisense-Präparate gegen ALS sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Dr. Beatriz Blanco-Redondo vom Institut für Biochemie an der Universität Leipzig hat an der Studie mit dem FUS-Gen mitgewirkt. Die Forscherin hofft, dass das Gegenmittel besser anschlägt, wenn man es den Betroffenen in einem früheren Stadium der Krankheit gibt. Die genannte Studie, die noch bis zum März 2024 andauert, soll dazu Antworten liefern.
Professor Thomas Meyer, Leiter der ALS- Ambulanz an der Charité Universitätsmedizin Berlin, hofft, dass das SOD1-Gegenmittel bessere Ergebnisse zeigt, wenn man es über einen längeren Zeitraum verabreicht als in der genannten Studie. Seit diesem März gibt er die Substanz Patientinnen und Patienten, die am Härtefallprogramm teilnehmen.

Letztlich kämen beide Behandlungen nur für etwa drei Prozent der circa 8000 Menschen infrage, die in Deutschland an ALS erkrankt sind. Es handelt sich dabei um die Gruppe mit rund 240 Personen, die ein fehlerhaftes FUS- oder SOD1-Gen haben. Wirksame Therapien mit diesen Antisense-Mitteln könnten allerdings als Blaupause für viele weitere Krankheiten dienen, die auf fehlerhaften Genen beruhen.

Meyer sieht in der Antisense-Technologie einen Durchbruch: „Wir müssen noch viel herausfinden. Aber ich glaube, wir stehen am Anfang einer neuen medizinischen Ära, der Ära der genetischen Therapien.“ Die ersten Antisense-­Medikamente gibt es ja bereits.


Quellen:

  • Korobeynikov V. et al.: Antisense oligonucleotide silencing of FUS expression as a therapeutic approach in amyotrophic lateral sclerosis. In: Nature Medicine 01.01.2022, 28: 104-116
  • Iannitti T. et al.: Translating SOD1 Gene Silencing toward the Clinic: A Highly Efficacious, Off-Target-free, and Biomarker-Supported Strategy for fALS. In: Molecular Therapy: Nucleic Acids 12.09.2018, 12: 75-88